Eine fast perfekte Lüge
Sommer erinnert, die er auf der Farm seines Großvaters in Illinois verbracht hatte, und wünschte sich plötzlich, immer noch der kleine Junge zu sein, der in den Stall rannte, um seinem Poppy beim Melken zu helfen. Aber die Wirklichkeit war zu hässlich, als dass man darüber hätte hinwegsehen können, und so verblasste die Erinnerung an Poppys Farm schnell.
In dem Moment, in dem er bei dem Geräteschuppen ankam, trat der Gärtner heraus. Jonah, der ihn auf Anhieb wiedererkannte, konnte ihm ansehen, dass er ihn erschreckt hatte.
Felipe Sosa hatte sich im Laufe der Zeit an seinen falschen Namen und den neuen Beruf als Gärtner richtig gewöhnt. In den letzten Tagen hatte er sich sogar öfter gewünscht, dass dieses Leben keine Lüge sein möge. Denn es machte ihm Spaß, mit den Händen zu arbeiten und zu beobachten, wie etwas wuchs. Dies war etwas völlig anderes als die über ganz Kolumbien verstreuten Kokainlabors.
Er hatte eben das letzte Stück Rasen gemäht und dabei überlegt, ob er die Haushälterin Rosa irgendwo draußen auf eine kalte Limonade einladen sollte, als er plötzlich einem Mann gegenüberstand, den er noch nie gesehen hatte. Spontan wollte er zu seiner Machete greifen, doch dann fiel ihm ein, dass er sie ja in seinem Dorf zurückgelassen hatte. Deshalb lächelte er und nahm Zuflucht zu dem unterwürfigen Verhalten, das man von einem Mann in seiner Stellung an einem Ort wie diesem erwartete.
„Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen,
Señor
?“ fragte er.
Jonah musterte ihn eine ganze Weile schweigend und merkte, dass der Mann nicht nur Angst, sondern auch ein schlechtes Gewissen hatte. Das war in seinen Augen der letzte Beweis. Auch wenn dieser Mann, der sich Felipe Sosa nannte, vielleicht nicht wusste, wohin man Evan verschleppt hatte, musste er doch etwas mit den Leuten zu tun haben, die es wussten.
„Nein, ich vertrete mir nur ein bisschen die Beine“, erwiderte Jonah, dann schob er seine Hände in die Hosentaschen und ging in Richtung Tennisplatz weiter.
Felipe nickte und beeilte sich zum Haus zu kommen. Auf halbem Weg blieb er noch einmal stehen und drehte sich um. Der Mann war im Schatten eines Mimosenbaums stehen geblieben, und Felipe glaubte aus seiner Haltung schließen zu können, dass er ihn die ganze Zeit beobachtet hatte. Plötzlich war sein Durst nach Limonade verflogen, und er wollte nur noch möglichst schnell von hier weg. Im Laufschritt rannte er zum Parkplatz, stieg in seinen klapprigen Pick-up und fuhr davon. Erst nachdem er sich in den Verkehrsstrom auf dem Highway eingefädelt hatte, wagte er aufzuatmen.
Als sich Felipe Sosa später zu Hause Tortillas mit Bohnen zubereitete, saß Jonah mit einem Fotoalbum auf dem Schoß in dem kleinen Salon neben der Bibliothek. Ein zweites Album, das er sich erst noch ansehen wollte, lag auf dem Beistelltisch neben ihm. Langsam blätterte er die Seiten um und betrachtete eingehend jedes einzelne Foto, das seinen Sohn zeigte. Und je länger er die Bilder anschaute, desto mehr wuchs sein Hass auf Declyn Blaine.
9. KAPITEL
W ährend sich Jonah in seinem Leid suhlte, wurde Miguel Calderone in den Besucherraum geführt, wo ihn sein Anwalt erwartete. Sein Gang war trotz der Beineisen, die man ihm angelegt hatte, beschwingt, fast herausfordernd. Er rechnete mit guten Nachrichten.
Ungeduldig wartete Abraham Hollister darauf, dass sein Mandant auftauchte. Es war sein Beruf, Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren, zu verteidigen, aber an Tagen wie diesem fragte er sich manchmal, ob es nicht vernünftiger gewesen wäre, in das Obst- und Gemüsegeschäft seines Vaters einzusteigen.
Als Hollister kurz darauf draußen auf dem Gang Schritte hörte, stand er schnell auf. Allerdings nicht aus Höflichkeit, sondern aus Unterwürfigkeit gegenüber dem Mann, der den größten Teil zu seiner Alterssicherung beisteuerte. Gleich darauf ging die Tür auf, und Miguel Calderone wurde von einem Wärter in den Raum geführt. Hollister begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln, während Calderone sich ihm gegenüber auf einen Stuhl setzte.
Nachdem Hollister ebenfalls wieder Platz genommen hatte, fragte er: „Nun, Mr. Calderone … ich hoffe, es geht Ihnen gut?“
Calderone verzog verächtlich die Mundwinkel. „So gut, wie man es an einem derart abstoßenden Ort erwarten kann.“
Hollister nickte mitfühlend, obwohl er es nicht wirklich nachfühlen konnte. Er kannte Gefängnisse nur deshalb von innen, weil er sich hier ab und zu
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