Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn
feststellen zu müssen, dass er nicht allein blieb. Sie konnte genau nachvollziehen, was er fühlte. Sie musste etwas unternehmen. Irgendetwas, statt hier in dem erdrückenden Schweigen sitzen zu bleiben.
Der Weg zurück nach Westminster durch die Dämmerung kam ihr diesmal lang vor. In den Straßen schienen hinter den Gardinen gelbe Lichter. Das wirkte behaglich, und Mary spürte das scharfe, bittersüße Verlangen, daheim in der Akademie zu sein. Normalerweise war die Aussicht auf einen Sessel und eine Tasse Tee eher langweilig; heute Abend erschien sie ihr so verlockend wie nie zuvor. Die Straßen wurden merklich ruhiger, als sie die Brücke überquerte und den Stadtteil Westminster betrat. Es war kein Wohngebiet und in dieser Gegend herrschte nur tagsüber Betrieb. Ihre Füße schmerzten. Sie hatte Muskelkater. Und sie gähnte so herzhaft, dass sie fast mit der schemenhaften Gestalt zusammenstieß, die an dem Holzzaun entlangschlich, der die Baustelle von der Straße trennte.
Ihre Ausbildung rettete sie. Ehe sie den Mann richtig wahrnahm und einen Plan schmieden konnte, hatte sie sich in den Schatten geduckt und verharrte bewegungslos. Trotzdem schien der Mann argwöhnisch: Auch er blieb stehen und sah über die Schulter die Straße entlang. Nach einigen sich hinziehenden Sekunden ging er weiter, jedoch vorsichtiger jetzt, und er sah sich immer wieder um.
Mary blieb wie angewurzelt stehen, den Rücken an den Zaun gedrückt. Der Mann war groß und sah kräftig aus, wenn sie seine Züge auch nicht erkennen und sein Profil in dem schwachen Licht nicht ausmachen konnte. Er trug eine Jacke und eine Hose, keinen Anzug, aber dieses Detail war eher unbedeutend,denn wer schlich schon in seinem Sonntagsstaat herum? Es hätte jeder sein können.
Er verschwendete keine Zeit auf das Vorhängeschloss am Tor, sondern suchte sich ein Stück des Bretterzauns aus. Erneut sah er sich rasch um. Dann zog er einen kleinen, gebogenen Gegenstand aus seiner Tasche. Mit kurzem, kräftigem Druck in Hüfthöhe stieß er ihn in den hohen Bretterzaun. Es war eine kurze, heftige Geste, so ähnlich, als würde man jemandem einen Dolch in den Schenkel stechen. Wieder ließ er den Blick über die Straße gleiten. In der Gewissheit, dass er nicht beobachtet wurde, schien er auf einmal mit einer einzigen katzengleichen Bewegung die Bretterwand hochzusteigen. Oben hielt er kurz an, dann schwang er sich hinüber und landete fast lautlos auf der anderen Seite.
Mary grinste und glitt aus ihrem Versteck zu der Stelle, wo er gestanden hatte. Richtig, dort steckte ein kleiner, sichelförmiger Krampen in der Wand. Er war nur fünf Zentimeter lang und gut zwei Zentimeter breit, aber er bot einem geübten Benutzer einen Tritt, mit dessen Hilfe er über den Zaun kam. In der Vergangenheit hatte sie bisweilen Ähnliches benutzt.
Sie betrachtete den Kletterhaken nachdenklich. Unmöglich, dem Mann nicht zu folgen. Die Schwierigkeit war nur, dass er mit ziemlicher Sicherheit auf Harkness’ Büro zusteuerte, das dieser Stelle genau gegenüberlag. Sie konnte diesen Weg also wohl kaum nehmen, ohne bemerkt zu werden. Sie konnte den Krampen auch nicht an einer anderen Stelle desZauns einsetzen; er würde ihn auf jeden Fall vermissen. Nein, sie musste ihren eigenen Weg hinein finden. Und diese Herausforderung erschien ihr so wohl anziehend als auch aufputschend.
Als Erstes musste sie herausfinden, wo die Nacht wächter steckten. Es gab zwei, erinnerte sie sich, die sich am Ende des Arbeitstags bei Harkness meldeten. Sicher gab es noch weitere, die Unterhaus und Oberhaus bewachten, aber sie nahm mal an, dass die innerhalb ihres Wirkungsbereichs blieben. Vorsicht kämpfte mit Ungestüm. Die Vorsicht siegte: Ein Zeichen, wie weit sie seit dem Beginn ihrer Ausbildung gekommen war, stellte sie mit leichtem Stolz fest. Sie lief um die Baustelle herum, lauschte aufmerksam und hielt Ausschau nach dem verräterischen Schimmern der Nachtwächterlaternen.
Nichts.
Schliefen sie? Tratschten sie gemütlich in einem abgelegenen Winkel? Was auch immer, ihrer Arbeit gingen sie auf jeden Fall nicht nach. Mary verzog den Mund. Sie verabscheute Nachlässigkeit, wenn es ihre Aufgabe jetzt auch leichter machte. Sie blieb wieder stehen und lauschte. Auf der einen Seite waren die ständigen Geräusche von der Themse zu hören: die schlurfenden Schritte und aufgeregten Rufe von menschlichen und tierischen Plünderern; Stimmen von Bootsführern und das Klatschen ihrer Ruder; Weinen von
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