Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn
»Guten Tag, Junge.«
James ging einfach weiter. »Los, Quinn.«
Wie ein braver Lehrjunge folgte ihm Mary. Doch noch während sie James nachtrottete, kam ihr blitzartig ein neuer Gedanke. Schnell drehte sie sich um und sah dem davongehenden Octavius Jones nach. Von mittlerer Statur. Verdammt. Er war eindeutig nicht derjenige, der am Montagabend in die Baustelle eingebrochen war.
Genau in dem Augenblick drehte sich auch Jones um und erwischte sie, wie sie ihm stirnrunzelnd nachsah. Ein breites Grinsen huschte über sein Gesicht, und er griff in die Tasche, zog eine Münze heraus und warf sie ihr in hohem, effektvollem Bogen zu. Automatisch fing sie sie auf – doch dann ver fluchte sie sich. Als Mark Quinn hätte sie gar nicht anders handeln können. Aber während sich die kalte Münze in ihrer geballten Faust anwärmte, musste sie sich doch fragen, wie und wann sie wohl gezwungen sein würde, sich für Jones’ Großzügigkeit zu revanchieren.
Dreizehn
Sitz der Agentur
Acacia Road, St. John’s Wood
D as verstieß völlig gegen die Vereinbarung. Sie hatte doch klargemacht, warum sie sich eine Unterkunft gesucht hatte, um ganz in die Rolle von Mark Quinn zu schlüpfen. Sie dachte, Anne und Felicity hätten das verstanden. Dass sie heute Abend in die Agentur einbestellt worden war, drohte ihre Bemühungen zu untergraben. Als sie an die vertraute Dachstubentür klopfte, versuchte Mary, ihren Unwillen hinunterzuschlucken. Sie würde nichts erreichen, wenn sie verärgert und frustriert klang; Anne und Felicity legten ihr solche Gefühle vielleicht sogar als Unfähigkeit aus, weiterzumachen.
»Herein.« Anne und Felicity sahen aus wie immer, saßen auf ihren üblichen Stühlen und tranken Tee. Obwohl sie keine Miene verzogen, hatte Mary doch den Eindruck, dass sie überrascht waren. Ihre Kleider – die einzigen Jungenkleider, die sie hatte – waren schmutzig. An ihren Stiefeln und Waden klebte Straßendreck, und sie konnte nur ahnen, wie sie roch.
»Guten Abend, Miss Treleaven und Mrs Frame.«Sie blieb stehen; sie würde nur die Möbel ruinieren, wenn sie sich setzte.
»Guten Abend. Wir haben dich heute kommen lassen, Mary, um dich zu fragen, wie es dir ergeht. Nicht in Bezug auf den Fall, obwohl wir neugierig auf einen ausführlichen Bericht sind, sondern in Bezug auf deine Jungen-Rolle.«
Mary schluckte heftig. Das war etwas unheimlich: als ob sie ihren peinlichen Zusammenbruch gestern Abend in der Gasse mitbekommen hätten. »Es geht mir gut, Miss Treleaven. Ab und zu war es schon etwas schwierig, wie erwartet. Aber ich falle nicht aus der Rolle und komme ganz gut zurecht.«
Anne verhielt sich still. Wahrscheinlich achtete sie gar nicht auf die Worte, dachte Mary mit plötzlicher Angst. Sie lauschte dem Ton ihrer Stimme, beurteilte ihren Ausdruck und beobachtete ihre Körpersprache auf verräterische Anzeichen hin, die möglicherweise Stress verrieten. Aber Mary verdankte es Annes und Felicitys Training, solch eine Prüfung zu bestehen. Sie sprach ruhig und nachdenklich. Starrte keine der Leiterinnen zu lange an. War darauf bedacht, besorgt und gleichzeitig entschlossen zu klingen.
»Bekommst du auch genug zu essen und ausreichend Schlaf?«, fragte Felicity.
»Es geht schon und es ist ja auch nur ein kurzer Einsatz.«
»Und die emotionalen Aspekte deiner Rückkehr?«, fragte jetzt Anne. »Dich deiner Kindheit zu stellen – ist das nicht anstrengend?«
Mary schwieg einen Augenblick. Sie spürte die Woge der Verwirrung, die sie jedes Mal überfiel, wenn sie aufwachte oder einschlief. In solchen kurzen Momenten vergaß sie, wer sie war, vermischten sich Mary und Mark. Und dann die Episode in der Gasse, nach dem Besuch bei Jenkins … beim bloßen Gedanken daran drehte es ihr den Magen um. »Anstrengend« war ein völlig ungenügendes Wort für diese Hölle. Doch Annes graue Augen beobachteten sie immer noch, unbewegt und ernst. »Ich habe gelernt, zurechtzukommen.«
Stille, während sich die drei Frauen ansahen. Es gab keine Hinweise, was Anne und Felicity dachten oder welcher Art ihre stumme Unterhaltung war. Schließlich nickte Anne. »Sehr gut. Ehe du berichtest – gibt es etwas, was du brauchst? Ein Essen? Etwas zu trinken?«
»Ein Bad?«, sagte Felicity grinsend.
Mary lachte. »Das Bad wäre ja gemogelt und ich hole mir auf dem Rückweg was zu essen. Aber ich wollte Sie nach den häuslichen Verhältnissen von John Wick fragen. Könnten Sie jemanden schicken, der sich sein Haus
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