Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn
Anstrengung schwitzend, die Arme um die Verrückte geschlungen – verharrte er, bis der verwirrte Lakai endlich wieder auftauchte.
»Schnell!«, fuhr James ihn an. »Hilf mir, sie auf ein Sofa zu betten.«
Der Lakai blinzelte ein paarmal, dann kam er langsam in Bewegung. Zusammen schleppten sie Mrs Harkness’ schlaffen Körper nach oben ins Wohnzimmer. James zog heftig an dem Glockenstrang. »Riechsalz, Brandy, und lass schnell einen Arzt kommen«, blaffte er das entsetzte Mädchen an, das aufgetaucht war.
»Und, sag mal« – er nahm sich den Lakaien vor, der sich gerade aus dem Staub machen wollte – »wo steckt Mr Harkness?«
Der Lakai rückte ab und blinzelte heftig. »Ich habe keine Ahnung, Sir.«
»Was heißt das, du hast keine Ahnung? Ist er zu Hause oder nicht?«
»N-nein, Sir.«
»Nicht für Besucher zu sprechen oder nicht im Haus?«
»N-nicht im H-Haus , Sir.«
James starrte den nutzlosen Kerl an. »Dann sag schon, wo er hin ist.«
»Ich – ich weiß nicht, Sir. Er hat nichts gesagt.«
»Wann ist er ausgegangen?«
Der Mann wandte den Blick ab. Er schien James nicht in die Augen sehen zu wollen, wusste aber auch nicht, wohin er sonst blicken sollte. »So gegen eins, Sir. Kurz danach.«
»Bleib doch stehen, wenn ich mit dir rede! Hat er die Kutsche genommen?«
»N-nein, Sir.«
»Ein Pferd?«
»Ich – ich glaube nicht, Sir.«
»Was hat er gesagt?«
»I-ich weiß nicht genau, Sir.« Dabei blinzelte der Mann wieder heftig. Er sah wie ein verängstigtes Kaninchen aus.
James seufzte. Seine direkten Fragen hatten dem Mann eindeutig die Sinne vernebelt. »Na gut«, sagte er und versuchte es mit Geduld – was nicht leicht war. »Erzähl mir, was vorgefallen ist.«
Der Lakai fuhr sich ein paarmal mit der Zunge über die Lippen. Er schluckte. Dann sagte er: »Er hat sich ganz ungewöhnlich benommen, Sir. Seit gestern Abend schon. Und heute hat er einen Brief bekommen – so gegen Mittag ungefähr. Er sitzt in seinemArbeitszimmer und liest ihn und fängt zu lachen an. Sie haben das doch gehört, Sir – dieses hohe, laute Lachen wie gestern Abend. Halb lacht er, halb weint er, dann kommt Mrs Harkness runter und fragt ihn, was denn los ist und ob was nicht stimmt. Und er erwidert: ›Alles. Nichts stimmt. Es ist –‹« Der Lakai legte die Stirn in Falten. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Ich weiß nicht genau, was er gesagt hat, Sir – es war Französisch oder so etwas.«
»Na gut. Und weiter?«
»Dann sagt er zu Mrs Harkness: ›Ich kann das wieder in Ordnung bringen. Denke daran, meine Liebe – ich habe das alles für dich getan.‹ Und Mrs Harkness fragt, was denn los ist, und jammert, aber mehr hat er nicht gesagt. Er nimmt seinen Hut und seinen Spazierstock und geht aus dem Haus. Einfach so.«
»Er hat also nicht gesagt, wohin er geht oder was er vorhat?«
»Nein, Sir.«
»In welche Richtung ist er losgegangen?«
»Nach Süden.«
»Du bist ihm nicht gefolgt?«
Der Mann wand sich. »Mrs Harkness hat geschrien und herumgejammert, Sir. Wir hatten genug mit ihr zu tun.«
James nickte. »Na gut. Hat Mrs Harkness eine Verwandte in der Nähe – eine Schwester vielleicht –, die kommen und ihr beistehen kann?«
Der Lakai nickte. »Mrs Phelps, Sir. Ich hole sie sofort.«
»Einen Moment noch. Bleib bei Mrs Harkness, bis der Arzt eintrifft, und das Mädchen auch. Sobald der Doktor da ist, kannst du Mrs Phelps holen.« Der Mann nickte. Er war es gewohnt, Anordnungen zu befolgen, und nun, nachdem er Anordnungen bekam, schien er wieder der alte, beflissene Lakai zu sein. James kehrte zu Mrs Harkness zurück, die bewegungslos auf dem Sofa lag. Sie hatte die Augen geschlossen und sah so still und ruhig aus, dass es James für nötig hielt, ihr Handgelenk abzutasten. Es war warm, und ihr Puls ging schnell, war jedoch kräftig. »Madam, ich mache mich auf die Suche nach Ihrem Mann. Sobald ich ihn finde, schicke ich Nachricht.«
Keine Reaktion, nicht mal ein Zucken mit den Lidern.
James musste nicht überlegen, wohin Harkness verschwunden war, nachdem er vor sieben Stunden aufgebrochen war. Es gab nur ein mögliches Ziel.
»Nach Hause, Sir?«, fragte Barker ohne große Hoffnung.
»Nein. St. Stephen’s Turm.«
***
Jenkins litt noch unter den Auswirkungen von Keenans Auspeitschen. Das Schnellste, was er schaffte, war ein ganz normaler Spazierschritt, der sich schon bald zu einem Humpeln verlangsamte. Es kostete ihn enorme Anstrengung. Er
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