Eine Feder aus Stein
doch einen Augenblick später war er schon wieder verschwunden. Als er aufblickte, lag dieser seltsam wissende, erwachsene Ausdruck auf seinem Gesicht, den er schon mit fünfzehn, vor mehr als zweihundert Jahren gehabt hatte.
»Ich war nicht zu jung«, sagte er. »Höchstens um sie zu heiraten, sie zu versorgen. Aber ich war nicht zu jung, um ihr den Hof zu machen, nicht zu jung, um sie zu schwängern. Cerises Baby war von mir.«
»Nein.« Petra runzelte die Stirn und dachte an die damalige Zeit zurück.
»Doch. Es stimmt, dass sie mit Marcel zusammen war«, fuhr er fort, und sein Gesicht verzog sich vor Bitterkeit. »Doch sechs Monate zuvor hatte sie mir beigewohnt. Sie war bereits schwanger, als sie zum ersten Mal bei ihm war.« Schnell stand er auf und schenkte sich noch einen Scotch ein. Petra wollte ihm das Glas wegnehmen und ihm etwas anderes anbieten, doch sie wusste, dass es keinen Sinn hatte.
»Es war dein Kind?« Gefühle durchfluteten Petra, Erinnerungen, vergangener Schmerz, verheilte Wunden. »Bist du … sicher?«
Er lachte bitter. »Oh ja.«
»Aber was wollte sie dann von Marcel? Er hatte auf eine Heirat mit ihr gehofft!«
Achselzuckend setzte sich Richard wieder hin und zog sein T-Shirt enger um sich, als wäre ihm kalt. »Ich weiß es nicht. Als ich es herausgefunden habe, dachte ich, ich müsste sterben. Doch sie hat mich nur für meine Eifersucht gescholten. Vielleicht tat er ihr leid. Oder vielleicht wollte sie ihm danken, für alles, was er für euch, eure Familie, getan hat, nachdem Armand euch verlassen hat. Vielleicht bedeutete er ihr aber auch wirklich viel. Ich weiß es nicht.«
»Ihr beide also …« Petra schüttelte den Kopf. Wie viel sie doch über ihre eigenen Töchter nicht wusste! War sie blind gewesen? Dumm? Oder einfach so sehr in ihr eigenes Leid und ihre eigene Enttäuschung vertieft, dass sie nicht mitbekommen hatte, was sich direkt vor ihren Augen abgespielt hatte?
»Ja. Sie war mit uns beiden zusammen. Aber nie zur selben Zeit.«
Petra zuckte zusammen.
»Entschuldigung«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Sie war deine Tochter und sie war eine gute Tochter. Aber bei der Göttin, es war nicht einfach, in sie verliebt zu sein. Zu wissen, dass sie mein Kind in ihrem Bauch trug und trotzdem noch mit diesem steifen, hochnäsigen Idioten rumschäkerte … und dann ist sie gestorben. Und ich konnte noch nicht mal Anspruch auf das Kind erheben.«
»Warum hat Marcel es nicht getan?«
»Weil er wusste, dass ich ihn umbringen würde, wenn er es versuchte.« Ein böses kleines Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Er trank noch einen Schluck.
»Also hat er sich schon gedacht, dass das Kind von dir ist?«
»Ich glaube, er hat gehofft, dass dem nicht so ist. Aber er wusste, dass ich auch mit von der Partie war. Cerise hat nie einen von uns vor dem anderen verheimlicht.«
Petra stand auf, holte sich ein Glas und füllte es mit Leitungswasser. Sie lehnte sich ans Waschbecken und sah ihn an. »Und was hat das nun alles mit den Zwillingen zu tun?«
Richard seufzte und legte den Kopf in die Hände. Es dauerte ein paar Minuten, bis er zu sprechen ansetzte. »Nach dem Ritus sind wir alle getrennter Wege gegangen. Melita verschwand in jener Nacht und Marcel nur ein paar Tage später. Jeder von uns hat das Dorf verlassen und meine Tochter hat von da an bei den Dedouards gelebt. Ich wollte zurückkommen und sie holen, sobald sie alt genug war. Aber ich bin nicht älter geworden. Ich wurde nicht erwachsen, zumindest nicht nach außen. Also konnte ich sie nur aus der Ferne im Auge behalten. Zu ein paar Leuten hielt ich Kontakt, und die ließen mich wissen, wie es Hélène ging. Aus der Ferne sah ich sie aufwachsen. Aufwachsen, heiraten, schwanger werden und sterben.«
Petra nickte traurig.
»Sie sterben immer«, fügte Richard hinzu.
Petra merkte, dass er versuchte, kühl und unnahbar zu wirken. »Tochter nach Tochter aus dieser Familie – immer sterben sie. Ich will nur … dass es aufhört.«
Sie konnte seine Stimme kaum mehr hören.
»Wenn die Zwillinge jetzt umkommen würden, hätten sie keine Kinder zur Welt gebracht, und die Familie wäre ausgelöscht«, sagte Petra. »Ist es das, was du meinst? Dass wir nie wieder den Schmerz fühlen müssten, wenn wieder eine Tochter stirbt?«
Er nickte kaum merklich und kippte sein zweites Glas hinunter. Jeder normale Mensch hätte längst keine Leber mehr.
»Und dafür warst du gewillt, einen Mord zu begehen.«
»Ich kannte sie
Weitere Kostenlose Bücher