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Eine Frage der Balance

Eine Frage der Balance

Titel: Eine Frage der Balance Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana W. Jones
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Wertschätzung noch um einiges tiefer - falls möglich.
    Ich ging am Brunnen vorbei, als aus einer der Hütten drei Mädchen herauskamen und mich angafften. Sie trugen das Haar zu zwei Zöpfen geflochten, ansonsten waren sie genauso ausstaffiert wie die Jungen.
    »Was machst du da?« fragte die Jüngste.
    »Ich nehme eure Schutzhülle ab, ihr braucht sie nicht mehr«, gab ich Auskunft und hievte das Bündel über ihre Köpfe. Es war mittlerweile ziemlich schwer geworden, in etwa vergleichbar einer Teppichrolle, nur lang, geschmeidig und biegsam. Beim Anblick der drei mußte ich denken, daß Prinzessin Alexandra nicht viel Freude an ihnen haben würde. Die beiden Älteren mochten in ordentlichen Kleidern recht hübsch aussehen, aber sie waren strohdumm, wie es meine energische Großmutter unverblümt ausgedrückt hätte. Die Jüngste, ein blondes, zartes Geschöpf von ungefähr zehn, schien sich geistig auf dem Stand einer Fünfjährigen zu befinden, und ihre Nase lief. Vielleicht waren sie nur das logische Produkt ihrer augenscheinlich spartanischen Erziehung, aber ich bezweifelte es. »Ihr werdet bald von hier weggehen«, sagte ich zu ihnen.
    »Weggehen? Knarros hat nie etwas von Weggehen gesagt!« rief eine der beiden älteren Mädchen. Und als hätte meine Eröffnung mich zu einer unerwünschten Person gemacht, scheuchte sie die beiden anderen zurück in die Hütte.
    Ich zuckte die Schultern, ging weiter und bündelte den magischen Stoff vor der Brust zusammen, bis ich den Altar erreichte. Es war nur ein kleiner, schmuckloser Steinblock mit einer von Flecken und Obstkernen übersäten Oberfläche, die von als Opfer dargebrachten Früchten kündete. Das Abstoßende an dieser Stätte der Verehrung war der Strauch. Ich haßte ihn. Er war grau und stachlig und kahl, und er knisterte und raschelte zornig bei meinem Näherko mm en - einer der Aspekte einer geringeren Göttin, ohne große Macht, aber dafür um so gehässiger. Ich bemühte mich, dem Gestrüpp keine Beachtung zu schenken, und fand es bedauerlich, daß ausgerechnet so etwas Unerfreuliches das Bindeglied zwischen dem Kaiser und Knarros sein sollte.
    Letzterer war im Anmarsch. Ich hörte das scharrende Klappern von Hufen auf Stein. Die Sonne stand schon ziemlich tief. Als ich in die Richtung der Geräusche schaute, sah ich die blauen Funken stieben, die die Eisen des Kentauren aus den Steinen schlugen. Zu den Handwerkern und Kaufleuten, denen der Zugang gestattet wurde, mußte also auch ein Schmied gehören. Auch Rob und Kris waren gut beschlagen; ihre Fußbekleidung war besser als die der kaiserlichen Sprößlinge.
    Dann tauchte Knarros auf, und ich gebe zu, daß ich erst einmal schlucken mußte. Er war gewaltig. Er ragte über mir auf wie ein berittener Polizist bei Straßenunruhen. Ich hievte das Magiebündel über den Altar und den Busch und ließ es fallen; weil der Boden abschüssig war, rollte und rutschte es noch ein Stück weiter. Die Zweige des Strauchs peitschten wild durch die Luft, als fühlte die Göttin sich gekränkt, doch ich hatte mich schon abgewandt und richtete meine Aufmerksamkeit auf Knarros. Schon beim ersten Blick sprang mir etwas ins Auge, das ich bisher über Kentauren nicht gewußt oder einfach nicht bedacht hatte: Die Farbe der Haut ihres menschlichen Torsos ist dieselbe wie unter dem Pferdefell. Es war mir nicht bewußt geworden, weil Rob und Kris beide Hellbraune waren, Knarros’ Rumpf jedoch war dunkel eisengrau, ebenso sein Gesicht, sein Bart, sein Haar und seine Arme. Er trug eine graue, ärmellose Weste. Man hatte den Eindruck, einem zum Leben erwachten Kolossalstandbild aus Granit gegenüberzustehen. Seine Miene paßte dazu; abweisender und unzugänglicher konnte ein Gesicht nicht sein.
    »Man hat mir gemeldet, Ihr seid der Magid«, sagte er. Seine Stimme war ein barscher, grollender Baß.
    »Das stimmt. Und Ihr seid Knarros?« Das granitene Haupt nickte eine kurze Bestätigung. »Gut. Dann werdet Ihr wissen, daß ich als Beauftragter der Übergangsregierung in Koryfos hier bin. Nach den Informationen, die der verstorbene Kaiser in Iforion hinterlassen hat, habt Ihr die leiblichen Nachkommen des Kaisers in Eurer Obhut - jene der Gemahlinnen zur Rechten jedenfalls. Ihr werdet erfahren haben, daß Timos IX. vor sechs Wochen einem Attentat zum Opfer gefallen ist, deshalb muß ich Euch auffordern, mir den Thronerben zu übergeben sowie Beweise für seine rechtmäßige Geburt, und darüber hinaus alle anderen Nachkommen des

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