Eine Frage der Balance
man tagelang dort stehenbleiben - wochenlang, vielleicht -, bis man sich bequemte, es zu tun. Für mich ein Anlaß, mich zu fragen, ob es wirklich so lustig war, Magid zu sein.
Ein zweites Mal breiteten die Blätter sich aus, als Babylon zur Sprache kam. Darüber wollten sie einfach alles wissen. Die ersten Fragen drehten sich, wie nicht anders zu erwarten, um die schwerwiegenden Dinge. Weshalb hatte Rupert alle drei Thronerben von Koryfos nach Babylon geschickt? (Das war mir gar nicht bewußt gewesen!) Und hatte er das Für und Wider einer solchen Aktion gründlich erwogen? Wußte er, wie wenige nur von dort zurückkamen? Hatte ihm die Zeile in der fünften Strophe, in der darauf hingewiesen wurde, nicht zu denken gegeben?
Plötzlich verlor Rupert die Beherrschung. »Nein, ich habe nichts erwogen!« sagte er. Eigentlich brüllte er fast.
»Es war die einzige Möglichkeit, die ich kannte, Maree zurückzubekommen! Mir war zumute, als wäre ich selbst entseelt worden, ist das so schwer zu verstehen?«
Niemand sagte etwas. Die Blätter schoben sich einfach zurück in den Stapel, und man ging zu anderen Fragen über, sachlichen, ins Detail gehenden Fragen. Was sie nicht alles wissen wollten! War der Bausch Ziegenwolle verschwunden? Rupert hatte sich wieder beruhigt und sagte ja, genau wie die Wasserfläschchen und unsere Kleider. Konnte er die Landschaft vielleicht genauer beschreiben? Er sagte nein. Dann fragten sie nach den Enten. Sie waren fasziniert von ihnen. Etwas Ähnliches sei noch nie zuvor geschehen, sagten sie und wußte Rupert eine Erklärung, weshalb die Enten als ausgewachsene Vögel zurückgekehrt waren? Rupert antwortete, er könne es nicht erklären, aber sie wären nicht nur ausgewachsen, sondern auch klug. Enten sind normalerweise ziemlich dumme Vögel, sagte er. Und Maree mischte sich ein und sagte, nach ihrer Meinung wäre den Enten bewußt gewesen, daß es ihnen an Verstand mangelte, und sie hätten sich auf den Weg nach Babylon gemacht, um das zu ändern.
Aber wie hätten sie als Enten ihren Wunsch äußern sollen? wollte irgendwer auf den hinteren Bänken wissen.
Maree antwortete: »Wir haben nicht die geringste Ahnung. Sie waren lange vor uns da, und das kann ich ebensowenig erklären, wie ich einen Grund dafür weiß, weshalb ich für den Rückweg viel länger gebraucht habe als Nick.«
Danach wurde der Stapel wieder ein paar Zentimeter niedriger, aber zögernd, als bedauerten die Leute, nicht mehr erfahren zu können, und sie wandten sich dem letzten Teil zu und inf o rmi erten sich über Dakros’ Rolle in der ganzen Angelegenheit. Ich hatte nicht gewußt, daß Rupert meinetwegen so besorgt gewesen war. Wenn ich es gewußt hätte, hätte ich ihm gesagt, daß er sich das sparen könne. Ich komme meistens ganz gut zurecht. Dann war der ganze Stapel Blätter verschwunden, und Rupert sah wieder nervös aus. Eine Dame zie mli ch nah an unserem Ende des Tisches wandte sich ihm zu: »Sie wußten nicht, daß Charles Dodgson ein Magid ist? Ich dachte, das wäre allgemein beka nnt .«
Rupert wollte ihr antworten, als ein Mann weiter oben am Tisch ihm winkte und mit erhobener Stimme sagte: »Was die römischen Auguren angeht, haben Sie nicht ganz recht gehabt, müssen Sie wissen. Die meisten waren sture Ignoranten. Ich bin damals Leiter des Vermessungstrupps gewesen, und oft hatte ich erhebliche Schwierigkeiten, die gepriesenen Auguren zu überreden, das Lager auf dem optimalen Nodus aufzuschlagen. An wenigstens drei Punkten haben sie mich gezwungen, einen anderen Platz zu wählen. Das ärgert mich heute noch. Ich möchte, daß Sie wissen, es war nicht meine Schuld.«
Rupert lachte und sagte: »Danke.«
Anschließend entstand eine Pause, angefüllt mit dem Knarren von Holz und dem Rascheln von Gewändern. Dann beugte sich der Mann mit der nüchternen Stimme etwas vor und fragte: »Wie beurteilt Ihr selbst Eure Leistungen bei dieser Mission, Magid?«
»Als miserabel«, antwortete Rupert. »Wo es möglich war, einen Fehler zu machen, habe ich ihn gemacht. Manchmal glaube ich, ich habe neue Fehler erfunden. Und den Tod dieser drei Kinder werde ich mir mein Leben lang nicht verzeihen kö nn en.«
Langes Schweigen.
Dann ließ sich der Mann vernehmen, den ich am Ende des Tisches nicht sehen konnte. Er hatte aber eine Stimme, die man nicht vergißt. Er sagte: »Ihr seht Euch in einem allzu schlechten Licht, Magid. Bis heute seid Ihr der jüngste Magid in unseren Reihen gewesen und wir haben Euch
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