Eine Frage der Zeit
Waldenthals. Das von den US-Streitkräften aufgegebene Areal wurde von der Stadtverwaltung nach und nach zu einem Gewerbegebiet umgewandelt. Das Land beteiligte sich mit Millionensummen an dem Projekt. Obwohl sich schon viele Unternehmen in den früheren Militäranlagen angesiedelt hatten, war dem rund einhundert Hektar großen Gelände der einstmals militärische Charakter immer noch deutlich anzumerken. Im Rathaus pflegte man die Erinnerung an die Zeit, in der viele tausend GIs hier gelebt und gearbeitet hatten. Daher hatte man sich dafür entschieden, die amerikanischen Straßennamen beizubehalten.
Die frühere Kirche lag in der Massachusetts Avenue direkt an der B270. Velten lenkte seinen Wagen vor den Haupteingang, über dem Neonröhren den Schriftzug 'Die Mausefalle' und die Umrisse eines üppig proportionierten Frauenkörpers formten. Im gleißenden Sonnenlicht kam die ganze Schäbigkeit des heruntergekommenen Gebäudes zum Vorschein. Von der Wand war der Putz großflächig abgeplatzt. Die Fassade war mit Graffiti beschmiert und um die Kirche herum wucherte kniehoch das Unkraut. Velten wusste aus Veröffentlichungen der Stadtverwaltung, dass der alte Bau in wenigen Monaten der Erweiterung der benachbarten Bundesstraße weichen musste. Fleischmann sah deshalb offensichtlich keine Notwendigkeit, in die Optik des Bauwerks, das er von der Stadt gepachtet hatte, zu investieren. Velten und Marcks stiegen aus, gingen um die Kirche herum und klopften an Türen und Fenster, doch weder Fleischmann noch irgendjemand sonst öffnete ihnen. Unverrichteter Dinge stiegen sie wieder in den Wagen und kehrten in die Redaktion zurück.
Kurz darauf saßen sich die beiden Journalisten in ihrem Büro im Pressehaus gegenüber. „Ist es wirklich so unwahrscheinlich, dass dieser Rothaar von einem Fremden umgebracht wurde?“, fragte Marcks und tippte sich nachdenklich mit einem Kugelschreiber an die Nase. „Vielleicht war er zufällig Zeuge von etwas geworden, das er besser nicht gesehen hätte. Er könnte einen Drogendeal oder ein anderes faules Geschäft beobachtet haben. Wir sollte die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Rothaar mit dem Kunstraub überhaupt nichts zu tun hatte und seine Bekanntschaft mit Fleischmann reiner Zufall ist.“
Velten war nicht überzeugt:„Bei fast allen Tötungsdelikten stehen Opfer und Täter zueinander in irgendeiner Beziehung. Morde und andere Gewalttätigkeiten bleiben meistens in der Familie oder die Beteiligten kannten sich aus einem anderen gemeinsamen Umfeld.“ Er hatte in zwei Jahrzehnten in der Lokalredaktion schon Dutzende Pressemitteilungen über Mord und Totschlag gelesen. Zwar fühlte er sich nicht als Kriminalist, aber doch immerhin als versierter Laie in Polizeiangelegenheiten. Dazu hatte natürlich auch seine Ehe mit Susanne beigetragen. Sie hatte ihm oft von ihrer Arbeit erzählt und gemeinsam mit ihm Fernsehkrimis seziert. „Der große Unbekannte als Mörder ist ziemlich selten, glauben Sie mir.“
Marcks grinste: „Der Unbekannte mit dem Messer, der auf einen Abstecher nach Waldenthal kam.“
„Sehr witzig. Aber vielleicht haben Sie ja recht damit, dass wir uns zu sehr auf die These, wonach Martin Rothaar ein Komplize von Alexander Stürmer war, eingeschossen haben. Wir sollten versuchen, etwas mehr über ihn zu erfahren. Susanne erwähnte doch in der Pressekonferenz, dass Rothaar bereits in den Neunzigern in Kunstdiebstähle verwickelt war. Vielleicht hatte der Morgenkurier ja damals schon über ihn berichtet.“
„Dann müsste im Archiv etwas zu finden sein“, antwortete Marcks elektrisiert. „Wo lagern die alten Ausgaben?“
„Im Keller, aber Sie brauchen sich nicht die Mühe zu machen, stapelweise Zeitungen zu wälzen. Die Lokalteile der letzten fünfundzwanzig Jahre wurden vollständig elektronisch archiviert. Klicken Sie doch mal auf unserer Homepage auf den Link ‚Archiv’.“
Marcks machte sich sofort an die Arbeit, gab aber bald resigniert auf: „Nichts. Kein Eintrag zum Suchbegriff ‚Martin Rothaar’.“
„Natürlich nicht. Wenn über ihn als Verdächtiger berichtet wurde, wird man ihn anonymisiert haben. Versuchen Sie es mit ‚Martin R.’.“
„Darauf hätte ich auch selbst kommen können.“ Kurz darauf klatschte sie in die Hände: „Tadaa! Es gibt drei Berichte über ‚Martin R.’ im Zusammenhang mit dem Diebstahl von wertvollen Gemälden aus dem Heimatmuseum.“
„Gut, machen Sie sich damit vertraut“, sagte Velten ohne
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