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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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sah ich zur Tür, sobald sie sich öffnete, Linda trat nicht ein. Unruhig hörte ich zwei Männern zu, die sich einig darin waren, daß sich die deutsche Nachkriegsliteratur von amerikanischen Einflüssen befreien müsse. Eine Stunde lang stand ich an der Theke und trank. Dann spürte ich einen beißenden Reiz in der Kehle. Ich ging in die Toilette und betrachtete mich im Spiegel. Ich wollte erkennen, ob sich in meinem Gesicht eine Sehnsucht oder eher eine Eifersucht abzeichnete. Der Schmerz arbeitete sich nach vorne in den Mundinnenraum. Mein Gesicht verriet nichts, aber ein starkes Ziehen im Unterkiefer deutete darauf hin, daß ich eifersüchtig war. Als ich in den Gastraum zurückkehrte, fühlte ich mich beobachtet. Ich war in diesem Lokal jemand geworden, der auf eine Frau wartete. Die Eifersucht war ein seltsam umherkriechender Schmerz. Mehr und mehr war ich mit dessen Ausbreitung und Beobachtung beschäftigt. Dann sah ich, daß auch meine Schmerzbeobachtung von anderen beobachtet wurde. Nach einer Weile zahlte ich und ging nach Hause.
    Es entsteht eine ganz tolle Verwirrung, wenn zwei Personen plötzlich aufgeht, daß sie doch kein Paar sind. In dieser Verwirrung verbrachte ich mit Gudrun den Samstag nachmittag im Schwimmbad. Gudrun saß neben mir auf einer Wolldecke und cremte sich ein. Sie trug einen blauen Bikini mit Rüschen am Oberteil. Die jungen Mädchen schminkten sich in diesem Sommer mit hellrosa, fast weißen Lippenstiften. Es störte mich, daß so viele Menschen um mich herum gleichzeitig redeten, lachten und schrien. Ich war weit und breit der einzige, der ein Buch mitgebracht hatte. Ganze Familien trockneten sich mit einem Handtuch ab, das sie dann in die Sonne legten. Gudrun erzählte, wie sie mit siebzehn zum ersten Mal in Italien gewesen war und wie ein Italiener versucht hatte, sie zu küssen. Ich habe mich gewehrt, sagte Gudrun, dann gab er mir sein Bild und seine Adresse und bat um Briefe. Und auf der Heimfahrt im Bus, sagte Gudrun, habe ich angefangen, sein Bild zu küssen, ist das nicht sonderbar?! Ich verurteilte im stillen die Leute ringsum, weil sie keine Bücher lasen, sondern nur Illustrierte. Immer wieder erwischte ich ganze Familien, wie sie ihre Zeit und ihre Energien sinnlos vergeudeten. Erst blätterte ein Vater eine Illustrierte durch, dann die Mutter, danach die Tochter und am Schluß der kleine Sohn. Nach einer Weile das gleiche von vorne. Es war schwierig, ruhig auf der Wolldecke liegenzubleiben und die Leute nicht zurechtzuweisen. Gudrun nahm keinen Anstoß daran, daß ich der Literatur hingegeben war; daß ich aber auch im Schwimmbad las, verstimmte sie doch. Sie ging ins Wasser, ich blieb mit dem Buch auf der Decke. Zum ersten Mal fiel mir auf, daß ich die Literatur auch als Trennungshebel benutzte. Zwischendurch betrachtete ich den flockigen Pappelsamen, den der Wind über die Wiesen trieb, oder die Wespen, die von Papierkorb zu Papierkorb flogen. Je weiter der Nachmittag voranschritt, desto stiller wurde es zwischen Gudrun und mir. Als sie gegen 18.00 Uhr die Brotkrümel und den Sand von der Wolldecke herunterschüttelte, wußte ich, daß es mit uns beiden zu Ende war. Ich begleitete sie wie üblich nach Hause. Am Dienstag der folgenden Woche, in der Mittagspause, gingen wir gemeinsam zur Bank und lösten unser Sparbuch auf. Danach sahen wir uns nicht wieder.

5
    Schon während der zweiten Woche beim Tagesanzeiger erschien es mir unmöglich, daß ich nach der Urlaubsvertretung wieder ausschließlich Lehrling sein sollte. Herrdegen wurde ein Mann, den ich seit Jahren zu kennen meinte. Er schrieb täglich zwei bis drei Artikel und ein bis zwei Glossen. Er schrieb praktisch den ganzen Tag, zuweilen an zwei Maschinen abwechselnd. Ich vermutete, daß auch er zu Hause an einem Roman arbeitete. Er redete nicht über das Schreiben, auch nicht über die Literatur. Vermutlich lebte er zurückgezogen in einem halbleeren Zimmer, in dem er niemanden duldete. Aber ich hatte mich getäuscht. Am Mittwoch erschien gegen 11.00 Uhr eine Frau mit Kind in der Redaktion. Sie war noch kleiner und noch magerer als er. Herrdegen sagte: Darf ich Ihnen meine Frau vorstellen? Alles an ihr war schmal, kurz und dünn. Frau Herrdegen übergab ihrem Mann ein paar Unterlagen und setzte sich dann, mit dem Kind auf dem Schoß, auf den Besucherstuhl. Ihre Beine reichten nicht bis auf den Boden herunter. Obwohl Frau Herrdegen eine erwachsene Frau war, machten die baumelnden Beine ein Kind aus ihr. Das Kind

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