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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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bestimmten selbst, bei wem sie leben wollten, doch er hatte das Zittern ihres Mundes gesehen und gewusst, dass sie ihm etwas vorlog. Doch worin? Familien sind für mich höhere Mathematik, sagte er manchmal zu Neta, zu viele Unbekannte, zu viele Klammern und Potenzreihen, und überhaupt, diese ganzen Komplikationen, murrte er, wenn sie das Thema aufbrachte, und dass man die ganze Zeit mit allen anderen Angehörigen in Beziehung stehen muss, jeden Moment, Tag und Nacht, sogar in den Träumen. Das ist, wie einem ständigen Stromschlag ausgesetzt zu sein, redete er dann auf sie ein, während sie dabei immer traurig wurde und sich verkrampfte, das ist wie ein nicht endender Gewittersturm. Willst du das?
    Und schon dreizehn Jahre wird er nicht müde, Neta zu sagen, dass sie ihre Jugend, ihre Zukunft und Schönheit auf ihn verschwende, dass er sie nur aufhalte und hindere, ihr das Leben verstelle. Siebzehn Jahre liegen zwischen ihnen. Mein junges Mädchen, nennt er sie, manchmal liebevoll und manchmal traurig. Als du zehn warst, erinnert er sie mit merkwürdiger Genugtuung, da war ich schon fünf Jahre tot. Und sie sagt, dann beleben wir die Toten eben und rebellieren gegen die Zeit.
    Ich will ein volles Leben mit dir, beharrt sie, und er weicht ihr immer wieder aus, redet sich auf den Altersunterschied heraus: Du bist viel erwachsener als ich, sagt er. Sie möchte auch Kinder, und er lacht entsetzt, reicht dir das eine nicht? Brauchst du Kinder in der Mehrzahl? Und ihre schmalen Augen, wie die von Geistern, leuchten auf: Dann ein Kind, in Ordnung, so wie Ibsen und Ionesco und Jean Cocteau dasselbe Kind waren.
    In letzter Zeit hatte er sie wohl überzeugen können, denn schon seit ein paar Wochen war sie nicht mehr gekommen und hatte auch nicht angerufen. Wo ist sie? fragte er sich halblaut und stand auf.
    Ab und zu, wenn sie mit ihren merkwürdigen Jobs ein bisschen Geld verdient hat, fährt sie plötzlich weg. Avram spürt schon vor ihr, wenn es kommt: Dann beginnt in ihrer Iris so ein Hunger zu kreisen, da werden im Schatten mürrisch Verhandlungen geführt, und anscheinend unterliegt sie und muss deshalb fahren. Immer wählt sie Länder, deren Name allein ihn schon in Schrecken versetzt, Georgien, Mongolei, Tadschikistan, sie ruft ihn aus Marrakesch oder Monrovia an, bei ihm ist es schon Nacht, bei ihr noch Tag – dann bist du jetzt, erklärt er ihr, zu allem Überfluss noch drei Stunden jünger als ich –, und sie erzählt ihm mit sonderbarer, fast mondsüchtiger Leichtigkeit Erlebnisse, bei denen sich ihm alle Haare aufstellen.
    Er begann, den Baum zu umkreisen. Er versuchte nachzurechnen, herauszubekommen, wann genau er das letzte Mal von ihr gehört hatte, und meinte, es sei mindestens drei Wochen her. Vielleicht noch länger? War sie wirklich schon einen ganzen Monat verschwunden? Und wenn sie sich etwas angetan hat? dachte er, blieb stehen und erstarrte und erinnerte sich, wie sie mit der Leiter am Geländer des flachen Daches in ihrer Wohnung in Jaffa getanzt hatte, und er wusste, dass diese Möglichkeit, die für Neta existierte, schon seit ein paar Tagen in seinem Kopf gehämmert hatte und dass die Angst um sie zusammen mit dem Vertrauen zu ihr in seine Welt gekommen war, jetzt erkannte er endlich, wie sehr die nervenaufreibende Erwartung des Tages, an dem Ofer entlassen würde, das bisschen ihm noch verbliebenen Verstand verwirrt hatte, so dass er sogar Neta vergessen hatte.
    Sein Kreisen um den Baum wurde schneller, und er rechnete noch einmal nach: Das Restaurant war schon einen Monat wegen Renovierung geschlossen, etwa seitdem kam sie nicht mehr. Seitdem hab ich sie nicht gesehen, nicht von ihr gehört und sie auch nicht gesucht. Und was habe ich die ganze Zeit gemacht? Er erinnerte sich an lange Spaziergänge am Strand. Straßenbänke. Bettler. Fischer. Wellen der Sehnsucht nach ihr, die er mit Gewalt unterdrückte, indem er den Kopf gegen die Wand schlug. Alkohol in Mengen, an die er nicht gewöhnt war. Schlechte Trips, Schlaftabletten in doppelter Dosierung, ab acht Uhr abends. Schlimme Kopfschmerzen am Morgen. Tagelang dieselbe Schallplatte, Miles Davis, Mantovani, Django Reinhard. Stundenlanges Wühlen in den Müllhaufen von Jaffa, um Schrott zu finden,Werkzeuge, verrostete Motoren, alte Schlüssel. Er hatte auch ein paar Tage gearbeitet und nicht schlecht verdient; zweimal die Woche stellte er in der Bibliothek eines Colleges in Rischon LeZion die Bücher zurück, und manchmal verdingte er sich

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