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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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inzwischen fast überwunden, habe sich mit seiner Weigerung und damit, dass er Ofer wegstieß, abgefunden, sich im Laufe der vielen Jahre an diese ihr von ihm aufgezwungene Spaltung gewöhnt, denn diese Spaltung brachte auch eine gewisse Erleichterung mit sich, klare Grenzen, eine absolute Trennung der Instanzen, hier Avram und sie, dort alle andern. In den letzten Jahren hatte sie mit einem Anflug von Scham bemerkt, dass der Gedanke an eine andere Möglichkeit sie mehr belastete als die Fortführung der bestehenden Konstellation. Und doch war sie bei jeder seiner abwehrenden Gesten wieder zutiefst verletzt und musste sich erneut in Erinnerung rufen, dass sein labiles Gleichgewicht wohl auf der hermetischen Abwehr Ofers beruhte, auf der Abwehr der Tatsache Ofer, der Abwehr dessen, was seiner Meinung nach zweifellos der größte Fehler seines Lebens war. Und auch das löste in ihr immer wieder eine Welle frischer Wut aus. Der Gedanke, Ofer könnte der größte Fehler im Leben von jemandem sein, und noch schlimmer, Ofer könnte der größte Fehler in Avrams Leben sein. Andererseits gab es – und genau das brachte sie in den letzten Tagen so durcheinander und beinah um den Verstand – diese schwarzen Striche an der Wand über Avrams Bett, die Tabelle der Verzweiflung von Ofers Militärzeit,drei Jahre, mehr als tausend Striche, ein Tag ein Strich. Anscheinend hatte er jeden Abend mit einem waagerechten Strich den vergangenen Tag durchgestrichen. Wie ließ sich das miteinander vereinbaren, dachte sie, der größte Fehler seines Lebens und diese Verzweiflungstabelle? Wem von beiden sollte sie glauben?
    Hör zu, Avram, ich hab mir überlegt …
    Ora, nicht jetzt.
    Wann dann? Wann denn dann?
    In einer scharfen Bewegung drehte er sich von ihr weg und begann, schnell zu gehen, und sie hasste ihn und verachtete ihn und er tat ihr leid. Sie dachte, sie war wirklich verrückt gewesen zu glauben, er könne ihr helfen und ihr in ihrer Not beistehen, diese ganze Idee war doch von Grund auf krank, dachte sie, und ihm gegenüber sogar sadistisch – ihm so eine Tour zuzumuten und zu erwarten, nach einundzwanzig Jahren der Leugnung und der Trennung, würde er auf einmal etwas von Ofer hören wollen –, und sie schwor sich, ihn am nächsten Morgen in den ersten Bus nach Tel Aviv zu setzen und bis dahin kein weiteres Wort über Ofer zu sagen.
    Am Abend wurde der Schmerz von Ofer dermaßen heftig, dass sie sich in ihr Zelt verkroch und leise zu weinen begann. Im Verborgenen, damit Avram es nicht hörte. Die Schmerzen kamen immer häufiger, packten sie beinah jede Minute und wurden so durchgehend und gellend, dass sie dachte, wenn das so weitergeht, müsse sie sich irgendwie in eine Notaufnahme bringen lassen. Aber was sollte sie denen erklären? Die würden sie noch überreden, sofort nach Hause zu fahren und zu warten, dass sie kamen.
    Avram hörte sie in seinem Zelt und beschloss, diese Nacht keine Schlaftablette zu nehmen, auch nicht die von Neta, seiner Freundin, die ihn nur für eine Weile benebelten, denn vielleicht würde Ora ihn in der Nacht brauchen. Aber wie könnte er ihr helfen? Er lag wach und schweigend da, die Arme fest über der Brust gekreuzt, die Hände in den Achselhöhlen. Stundenlang konnte er so liegen, ohne sich zu bewegen. Er hörte, wie sie vor sich hin wimmerte, ein anhaltendes, eintöniges Weinen. In Ägypten, im Abassija-Gefängnis, war einer gewesen, ein aus Cochin stammender indischer Jude aus Bat Jam, klein und dünn, der hatte jede Nacht stundenlang so geweint, auch wenn sieihn nicht gefoltert haben. Die Kameraden sind fast durchgedreht seinetwegen, sogar die ägyptischen Gefängniswärter sind an ihm verrückt geworden, aber der Cochini hat nicht aufgehört. Einmal, als Avram und er zusammen im Flur standen und warteten, dass man sie zum Verhör abholte, war es Avram gelungen, ihn durch den Sack, den jeder von ihnen über dem Kopf hatte, zum Sprechen zu bewegen, und der Cochini sagte, er weine aus Eifersucht auf seine Freundin, er spüre, dass sie ihm nicht treu sei, sie habe schon immer seinen größeren Bruder mehr geliebt als ihn, und die Vorstellung, was sie jetzt mache, verbrenne ihn bei lebendigem Leib. Da hatte Avram eine merkwürdige Ehrfurcht und Achtung gegenüber diesem schmächtigen kleinen Kerl empfunden, der in der Lage war, sich in der Hölle der Kriegsgefangenschaft so ganz seinem persönlichen Schmerz hinzugeben, der überhaupt nichts mit den Ägyptern und den Folterungen zu tun

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