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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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auch als Versuchsperson für Firmen, die Medikamente oder Kosmetik herstellten: In der Gegenwart von Wissenschaftlern und netten, höflichen Laboranten, die ihn vermaßen, wogen, jedes Detail aufschrieben und ihm irgendwelche Formulare zum Unterschreiben vorlegten und ihm zum Schluss einen Gutschein für einen Kaffee und ein Croissant gaben, schluckte er Pillen in Leuchtfarben und schmierte sich mit Cremes ein, die vielleicht irgendwann auf den Markt kommen würden oder auch nicht. In seinen Berichten erfand er körperliche und seelische Nebenwirkungen, an die die Entwickler der Medikamente nie gedacht hätten.
    Letzte Woche, als der Tag der Entlassung näher rückte, war er schon nicht mehr aus dem Haus gegangen. Er redete nicht mehr mit Leuten, nahm das Telefon nicht mehr ab, aß nicht mehr. Er hatte das Gefühl, er müsse den Platz, den er auf der Welt einnahm, jetzt möglichst einschränken. Er stand kaum noch aus seinem Sessel auf. Saß da, wartete, und er verminderte sich. Und wenn er aufstand und durch die Wohnung ging, gab er sich Mühe, keine schnellen Bewegungen zu machen. Damit der dünne Faden, an dem Ofer jetzt hing und von ihm abhing, nicht reiße, nicht erschüttert werde. Im Laufe des letzten Tages, als er der Meinung war, Ofer sei bereits entlassen, hatte er reglos neben dem Telefon gesessen und gewartet, dass Ora anrief und ihm sagte, jetzt ist es dort vorbei. Aber sie hatte nicht angerufen, und er erstarrte immer mehr und wusste, dass etwas passiert war. Nichts Gutes. Die Stunden vergingen, es wurde schon Abend, er dachte, wenn sie nicht jetzt sofort anrief, würde er sich nicht mehr bewegen können. Mit letzter Willenskraft hatte er sie angerufen und gehört, was passiert war, und dann hatte er gespürt, wie er zu Stein wurde.
    Aber wo bin ich den ganzen Monat gewesen, brummte er und war entsetzt, seine Stimme zu hören.
    Er drehte sich um und lief schnell zu Ora, rannte fast, genau in dem Moment, als sie ihn rief.

    Sie saß in ihren Mantel gehüllt da. Wann bist du aufgestanden, Avram? Ich weiß nicht, schon vor einer Weile. Und wo bist du hingegangen? Nirgends, ich bin bloß ein bisschen rumgelaufen. Hab ich dich gestört mit meinem Weinen? Nein, das ist okay, wein ruhig, weine.
    Das Auge der Morgendämmerung öffnete sich langsam. Sie schwiegen. Schauten zu, wie das Schwarz der Nacht herausgesaugt wurde und verschwand. Hör mal, sagte sie, und lass mich jetzt bitte ausreden. Ich kann so nicht weitermachen. Was heißt so? Dass du schweigst. Aber ich red doch ziemlich viel, lachte er angestrengt. Pass auf, dass du nicht heiser wirst, sagte sie trocken, ich halt es einfach nicht aus, dass du mich nicht über ihn reden lässt.
    Avram machte eine Bewegung wie, fängst du schon wieder damit an, und sie atmete langsam ein und sagte dann, ich weiß, dass es für dich schwer ist mit mir, aber so werd auch ich verrückt. Das ist schlimmer, als wenn ich alleine gegangen wäre, denn allein könnte ich wenigstens laut mit mir über ihn reden, und jetzt tu ich deinetwegen noch nicht mal das. Und ich dachte, was hab ich gedacht – sie hielt inne, betrachtete ihre Fingerspitzen, ja, sie hatte keine andere Wahl –, wenn wir gleich an eine Straße kommen, dann trampen wir nach Kirijat Schmona und setzen dich in einen Bus nach Tel Aviv, und ich bleibe hier und mach noch ein bisschen weiter. Was meinst du? Kannst du alleine nach Hause fahren?
    Ich kann alles. Jetzt mach aus mir keinen Behinderten.
    Das hab ich nicht gesagt.
    Ich bin nicht behindert.
    Ich weiß.
    Es gibt nichts, was ich nicht machen kann, sagte er wütend. Es gibt nur Sachen, die ich nicht will.
    Mir mit Ofer zu helfen, dachte sie.
    Und wie kommst du hier zurecht?
    Keine Sorge, ich komm schon zurecht. Ich werd ein bisschen laufen, viel muss es gar nicht sein. Es reicht schon, wenn ich auf einem Feld rumlauf, hin und her, so wie gestern oder vorgestern, du hast es ja gesehen. Wichtig ist nicht, wo ich bin, sondern wo ich nicht bin, verstehst du das?
    Er lächelte spöttisch, ob ich das versteh?
    Es wäre für uns beide das Beste, sagte sie zweifelnd und traurig. Er antwortete nicht, und deshalb machte sie weiter. Du denkst vielleicht, ich könnte das stoppen, von ihm zu reden, meine ich, aber das kann ich nicht. Ich bin jetzt nicht in der Lage, mich zu beherrschen, ich muss ihm Kraft geben, er braucht mich, das spüre ich. Ich mach dir auch keine Vorwürfe.
    Avram senkte den Kopf sehr tief. Beweg dich jetzt nicht, dachte er, lass sie ausreden,

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