Eine Frau flieht vor einer Nachricht
hatte.
Er stand auf und ging leise aus dem Zelt und entfernte sich so weit, dass er Ora kaum noch hörte, setzte sich unter einen Pistazienbaum und versuchte, sich zu konzentrieren. Tagsüber, mit Ora in der Nähe, war er überhaupt nicht in der Lage nachzudenken. Jetzt verfasste er die Anklageschrift über seine Erbärmlichkeit und Angst. Alle zehn Finger drückte er sich ins Gesicht, in die Stirn, in die Wangen, und brummte halblaut, jetzt hilf ihr doch, du Scheißkerl, du treuloser, und er wusste, er würde nicht helfen, und sein Mund verzerrte sich vor Abscheu.
Wie die anderen Male, wenn er ehrlich über sich nachgedacht hatte, konnte er einfach nicht verstehen, warum er überhaupt noch am Leben war, das heißt, was das Leben dazu veranlasste, sich so an ihn zu klammern und ihn noch aufzusparen. Was an ihm rechtfertigte eine so andauernde Anstrengung von Seiten des Lebens, eine solche Hartnäckigkeit, oder war es einfach Rachgier?
Er schloss die Augen und versuchte, in seiner Vorstellung die Gestalt eines jungen Mannes hochkommen zu lassen. Irgendein Junge. In letzter Zeit, je näher das Datum von Ofers Entlassung kam, suchte er sich ab und zu in dem Restaurant, in dem er arbeitete, oder irgendwo auf der Straße einen Jungen im passenden Alter und beobachtete ihn heimlich, lief ihm auch mal ein, zwei Straßen lang hinterher und versuchte, mit seiner Hilfe sich Ofer vorzustellen. Solche Phantasien erlaubte er sich immer öfter. Annahmen über Ofer, Schattenbilder.
Die zähe nächtliche Stille hüllte alles um ihn ein. Sanfte Windböen strichen lautlos über ihn hinweg. Ab und zu schrie ein großer Vogel, wohl ganz in der Nähe. Auch Ora spürte in ihrem Zelt etwas. Sie verstummte und lauschte, und es war, als wehe etwas über ihre Haut. Tausende von Kranichen flogen im Nachthimmel gen Norden, doch sie beide sahen sie nicht und wussten es nicht. Lange dauerte das weit ausgespannte unsichtbare Geräusch, wie ein Rauschen der Wellen am Muschelstrand. Avram lehnte mit geschlossenen Augen am Pistazienbaum und sah den Rücken Ofers in Gestalt des jungen Ilan vorbeischleichen – ausgerechnet Ilan tauchte vor ihm auf, er ging einen halben Schritt vor ihm, führte ihn auf den Wegen des so verhassten Militärcamps, in dem er mit seinem Vater wohnen musste, zeigte ihm mit einer Augenbewegung die übertünchten Graffiti an den Wänden der Steinhäuser. Danach versuchte Avram, sich eine männliche Version von Ora in ihrer Jugend vorzustellen, doch er sah nur immer wieder sie selbst, hochgewachsen, hellhäutig, mit den wippenden roten Locken im Nacken, und fragte sich einen Augenblick, ob Ofer wohl so rothaarig war wie sie, so wie sie mal gewesen war, jetzt war nicht mal mehr ein Anflug von Rot in ihrem Haar zu finden, und es wunderte ihn, dass er bis jetzt noch nie diese naheliegende Möglichkeit bedacht hatte, dass Ofer rothaarig war, und noch mehr wunderte es ihn, dass er es wagte, ihn sich so vorzustellen, und dann sah er, für einen blitzartigen Moment, eine Projektion von Ofer, der ihm selbst – Avram mit einundzwanzig – ähnelte, und mit siebzehn und mit vierzehn – mit einem Augenzwinkern sprang er zwischen seinen verschiedenen Altersstufen hin und her – für sie, dachte er fiebernd, mit einer Hingabe wie ein Betender, nur für sie – und er sah das Aufflackern eines rotwangigen runden Gesichtes, immer hellwach, immer glühend, er spürte das Sprunghafte, Leichtfüßige, Kleinwüchsige, das er schon Jahre nicht mehr gespürt hatte, es war, als wehen von dem wuscheligen Kopf Funken eines nie erlöschenden Feuers, als werde von dort der Blitz eines begehrenden Augenzwinkerns zu ihm geschickt, aber sofort abgewehrt, aus dem Bild ausgelöscht, wie von einem erbarmungslosen Türsteher aus seinem Selbst hinausbefördert, und er saß schwer atmend und schweißgebadet da, sein Herz schlug noch eine Weile wild, aufgewühlt, wie als Junge, wenn er sich verbotenen Phantasien hingab.
Er lauschte: absolute Stille. Vielleicht war sie endlich eingeschlafen, für eine Weile von ihrem Schmerz erlöst. Er versuchte zu verstehen, was genau zwischen Ilan und ihr passiert war. Sie hatte nicht ausdrücklich gesagt, dass die Trennung von Ilan ausgegangen sei, hatte dies sogar abgestritten. Vielleicht hatte ja sie sich in jemanden verliebt? Hat sie einen anderen Mann? Aber warum war sie dann hier allein, warum hat sie dann ausgerechnet ihn mitgenommen?
Sie hatte auch gesagt, die Kinder, die Söhne, seien schon groß, sie
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