Eine Frau flieht vor einer Nachricht
das schon mit sechzehn – aber lass das jetzt!
Die Luft flirrt und summt. Fliegen, Bienen, Mücken, Grillen, Schmetterlinge und Käfer schweben, kriechen, krabbeln von allen Blättern. In jedem Teilchen der Welt steckt so viel Leben, denkt Ora, und dieser Überfluss erscheint ihr plötzlich bedrohlich, denn was stört es diese überquellende, verschwenderische Natur, wenn das Leben einerFliege, eines Blattes oder eines Menschen in ebendiesem Moment zu Ende geht? Aus dem Schmerz dieses Gedankens beginnt sie zu reden.
Mit ruhiger, tonloser Stimme erzählt sie, Ofer hat bis vor einer Weile eine Freundin gehabt, seine erste, aber die hat ihn verlassen, und davon erholt er sich nicht.
Ich hab sie wirklich gemocht, sagt sie, man kann sagen, ich hab sie ein bisschen adoptiert, und sie mich auch; wir sind uns sehr nahe gekommen, sie lacht verlegen, das war wohl mein Fehler, es ist nicht gut, zu den Freundinnen der Söhne so eine enge Beziehung zu haben – na, denkt sie, war das nun eine nützliche Information für ihn? –, alle haben mich gewarnt, aber in Talia, sie hieß Talia, hab ich mich einfach auf den ersten Blick verliebt. Übrigens war sie gar nicht so wahnsinnig schön; in meinen Augen allerdings schon. Sie hatte – sie hat, ich muss aufhören, in der Vergangenheit von ihr zu denken, es gibt sie ja noch, sie lebt doch noch; warum rede ich dann …
Für einige Sekunden ist nur das Geräusch ihrer Schritte zu hören, das Knirschen unter den Füßen auf dem Weg und das Summen. Ich rede zu ihm, wundert sich Ora, ich erzähl ihm solche Sachen und weiß noch nicht mal, ob das jetzt Aus-der-Ferne-Anfangen ist, aber es ist das Fernste von Ofer, wozu ich im Moment in der Lage bin, und Avram haut nicht ab.
Sie hatte ein Gesicht, diese Talia, wie soll ich dir das beschreiben – Beschreibungen, denkt sie zu ihm hin, waren immer deine Sache –, ein Gesicht voller Kraft und Charakter, so eine starke Nase und volle Lippen, wie ich es mag, und einen großen, weiblichen Busen hatte sie, und vor allem wunderschöne Finger. Ora lacht und bewegt vor den Augen ihre Finger, auch die waren bis vor kurzem schön, doch dann wurden sie dick und in den Gelenken knotig und verloren etwas von ihrer Schönheit.
Hinter dem kleinen Foto in ihrem Geldbeutel, auf dem Ofer und Adam sich umarmen – aufgenommen am Morgen von Adams Einberufung, beide mit langem Haar, Adams dunkel und glatt, Ofers noch ganz golden und an den Enden gelockt –, bewahrt sie heimlich ein Foto von Talia auf. Sie bringt es nicht übers Herz, sie dort rauszuschmeißen, hat aber immer auch Angst, Ofer könnte es zufällig entdeckenund wütend werden. Manchmal holt sie es aus dem Versteck und betrachtet Talia, versucht sich vorzustellen, was für Kinder aus der Verbindung von Ofer und ihr hätten hervorgehen können. Manchmal schiebt sie das Bild auch in die leere durchsichtige Plastikklappe, in der bis vor einem halben Jahr ein Foto von Ilan steckte, und lässt dann den Blick von den Jungen zu Talia und zurück schweifen, stellt sich Talia als ihre Tochter vor und staunt: Das scheint durchaus möglich und ganz natürlich.
Ein ganz nüchternes Mädchen, fährt sie fort, sogar fast ein bisschen bitter, wie alte Menschen, du könntest sie gern haben – sie lächelt seinen Rücken an –, und denk nicht, dass sie, wie soll ich sagen, sie war nicht gerade ein einfacher Mensch. Aber du glaubst ja wohl auch nicht, dass Ofer sich eine einfache Freundin gesucht hätte, oder?
Sie hat den Eindruck, sein Nacken zwischen den Schulterblättern wird noch breiter.
Sie steigen hinunter zum Flussbett eines Wadis, der felsige Abhang erscheint ihr gefährlich. Als sie den Abstieg beginnen und sie sieht, wie Avram stolpert und sich an einem Felsvorsprung festhält, murmelt sie, hoffentlich ist das bloß ein kleiner Abweg, und achtet sofort auf das Echo ihrer Worte in seinem Kopf, sie fragt sich, ob dort wohl noch jemand mit jener näselnden Stimme wohnt, bei der alle lachen mussten, und mit verschmitztem Trolllächeln sagt, »Avram hingegen mag gerade diese kleine Abwege sehr«, doch sie hört in ihm keine Stimme, bemerkt auch keinen Anflug eines Lächelns, kein Funken blitzt in seinen Augen auf, und vielleicht gibt es dort wirklich nichts mehr, denkt sie, nichts und niemanden. Jetzt sieh das doch endlich ein und finde dich damit ab.
Schon sind sie auf einem Abhang glatter Felsen, die sie nach unten ziehen, in die Tiefe einer Felsspalte, und auch das war ein Wort, das ihn früher
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