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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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und ihren Gedanken gelesen und vielleicht auch bestätigt hatte, und das Baby breitete seine dicken Ärmchen aus und schrie aus voller Lunge mit einem Gesicht, das vor Empörung purpurrot entflammte, und Ora sprang zu Avram, er reichte ihr das Baby, sie nahm es aus seinen Händen, und dabei stieß Avram ein paar schnelle Worte in ihrer Richtung aus, sie verstand nicht genau, was er sagte, vielleicht weil das Baby weinte oder wegen der leichten Erschütterung, die sie durchlief, als sie die Stelle berührte, an der der Kinderkörper auf Avram gelegen hatte – und es schien ihr, als habe er gesagt, aber fang aus der Ferne an.
    Sie lächelte verlegen, verstand nicht, wovon er sprach, womit anfangen? Und warum aus der Ferne? Die Mutter des Babys kam mit gerötetem Gesicht aus der Küche gelaufen und entschuldigte sich, dass sie das Baby bei Avram vergessen hatte, wir haben Sie zur Gepäckaufbewahrung gemacht, noch ein bisschen, und er hätte Sie Papa genannt, und sie lachte, dass der Kleine es bereits auf den nächsten Schoß geschafft hatte, der setzt immer alle in Bewegung, er gibt auch keinen Moment Ruhe, beschwerte sie sich liebevoll, hast du Hunger, Männlein, fragte sie, und Ora bemerkte, wie Avram abwesend nickte, sich aber sofort wieder fing und den Blick von der Mutter wandte, die sich nicht weit von ihm hingesetzt hatte und sich das Baby flink unter die Kleider schob, wo sein Kopf verschwand.
    Ora dachte an Ofer, und er tat ihr nicht weh, der furchtbare Schmerz von gestern war vorüber. Akiba ging mit einer großen Schüssel singend durchs Zimmer und schaute sie aus dem Augenwinkel an, als verstehe er jetzt, warum er sie hierher mitgenommen hatte. Ihren Blick zog es zu dem Baby, dessen kleine Faust sich entspannte und wieder zusammenzog, was von eifrigem Trinken zeugte, und sie wusste, wo immer Ofer auch war, in diesem Moment war er geschützt und sicher, und sie wiederholte im Kopf immer wieder, was Avram ihr zugeflüstert hatte, und plötzlich verstand sie es.
    Aus der Ferne anfangen?
    Er nickte einmal und wandte den Blick sofort wieder ab.
    Sie setzte sich auf, betastete ihre Finger, erregt und plötzlich auch etwas verängstigt.
    Er saß ihr gegenüber. Das Zimmer um sie herum lärmte, und nur sie beide hielten die Köpfe gesenkt, ihre Körper waren schwer und entspannt. Einen langen Augenblick schwebten sie beide irgendwo, in einer Zeit, die keine war.
    Bleiben wir zum Essen? fragte Ora etwas später, ohne Stimme, nur mit den Lippen.
    Wie du willst, flüsterte Avram, und sein Kehlkopf hüpfte im Gedanken an die Speisen.
    Ich weiß nicht, wir sind hier so unangemeldet eingefallen …
    Natürlich esst ihr hier, lachte die Frau des Hauses, die – Pech gehabt – gut von den Lippen lesen konnte, was haben Sie denn gedacht, dass wir Sie so gehen lassen? Es ist uns eine Ehre, wenn Sie bei uns essen. Alle Freunde von Akiba sind unsere Gäste.

Aber fang aus der Ferne an, hatte er gebeten, gewarnt, doch sie weiß nicht, von wie fern. Braucht er die örtliche oder die zeitliche Entfernung? Und überhaupt, was ist für ihn dort, wo er sich gerade befindet, fern? Sie geht hinter ihm, sieht die schiefgelaufenen Absätze seiner nicht zum Wandern geeigneten alten Allstar-Schuhe und fragt ihn nicht, wie lange er sich noch weigern will, Ofers robuste Wanderschuhe anzuziehen, die am Rucksack auf seinem Rücken baumeln. Vielleicht sind sie ihm ja zu groß, denkt sie, vielleicht fürchtet er das. Noch immer hat er kleine Hände und Füße – Löffelchen nannte er sie, meine Handlöffelchen und meine Fußlöffelchen –, er war ihretwegen immer verlegen gewesen und hatte sich gerade deshalb Caligula genannt, kleiner Stiefel, und sie erinnerte sich, wie erstaunt er später war, dass ihre Brüste genau in seine Hände passten. Heute vielleicht nicht mehr, zwei Kinder hatten an ihnen gesaugt, und auch die Münder vieler Männer – so viele waren es ja gar nicht, komm, lass uns mal zählen, aber was gibt es da zu zählen, du weißt es ganz genau, schon hundertmal hast du gezählt. Aber etwas in ihr, eine gemeine, fiese Kreatur, beginnt schon, an den Fingern abzuzählen, während sie weiterläuft, Ilan eins, Avram zwei, zusammen mit diesem Eran drei, warte, vier sind es mit Motti, den sie ein paarmal in Zur Hadassa mit nach Hause genommen hat, das war schon Jahre her, er hat in der Dusche laut geschmettert – vier Männer also. Im Durchschnitt pro Jahrzehnt weniger als einer, keine große Errungenschaft, einige Mädchen haben

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