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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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seinen Eltern in die USA zog und ihm das Herz brach. Das sind so kleine Geschichtchen, entschuldigt sie sich wieder, doch von Geschichte zu Geschichte, von Wort zu Wort, formt sich Ofer, das Baby, auch für sie immer klarer zum Kind: Das winzige Baby streckt sich, wächst, wird zum Krabbelkind, es wechselt Kleider,Spielzeug, den Haarschnitt; seine Augen verändern sich. Sie zeigt Avram, wie Ofer alleine spielt, wie er sich dabei konzentriert und ganz im Spiel aufgeht. Sie erzählt von seiner Liebe zu besonders kleinen Spielsachen mit vielen Details und aufwendigem Zubehör, sie bestaunt seine Fähigkeit zu schauen, was wohin gehört, und alle Teile mit endloser Geduld zusammenzubauen und dann wieder auseinanderzunehmen.
    Von mir hat er das nicht, lacht Avram, und Ora ist gerührt. Gerade aus dieser Leugnung hört sie die Bestätigung.

    Als er anderthalb war, sind sie auf Urlaub in ein Feriendorf am Meer gefahren. Dort war er in aller Frühe aufgewacht und hatte gesehen, dass Ora, Ilan und Adam noch schliefen. Er war aus seinem Bett geklettert und hatte allein den Bungalow, in dem sie untergebracht waren, verlassen. Ora bemerkte es in dem Moment, als die Fliegengittertür zuschlug, und lief ihm leise hinterher. Barfuß, mit einem kurzen Hemdchen und einer Windel bekleidet, lief er hinaus auf die große Wiese und sah wohl zum ersten Mal in seinem Leben einen riesigen Wassersprenger, der sich drehte. Staunend blieb er stehen, gickelte und murmelte vor sich hin. Dann begann er ein Spiel mit dem Wassersprenger. Er näherte sich dem Strahl, bis er beinah seine Beine benetzte, und rannte wieder weg. Ora schaute ihm, hinter einem Mäuerchen versteckt, heimlich zu und meinte, sie könne mit eigenen Augen sein Glück sehen, und auch das Glück selbst, wie es sonnig und golden im Wasser blitzte.
    Plötzlich erfasste ihn der Wasserstrahl und überspülte ihn von Kopf bis Fuß. Er erschrak, verharrte wie gelähmt unter dem Strahl, zitterte am ganzen Leib mit geballten Fäustchen, das Gesicht verzerrt zum Himmel gerichtet. Sie macht es Avram vor, stellt sich mit geschlossenen Augen und zusammengepressten Lippen hin und zittert. Ein winziges Menschenkind, einsam zwischen den Schlägen des Wassers um ihn herum, beugte sich einem unverständlichen Urteil, und sie rannte natürlich los, wollte ihn retten, doch dann hielt etwas sie an, zog sie in ihr Versteck zurück, vielleicht der Wunsch, ihn einmal so zu sehen, wie er ganz für sich allein ist, sagt sie zu Avram, ihn als Mensch in der Welt zu sehen.
    Schließlich kam Ofer zu sich, ging ein paar Schritte weiter, bezog in sicherem Abstand Stellung und schaute den Wassersprenger beleidigt an; er weinte lautlos und bebte am ganzen Leib. Doch sofort vergaß er die Kränkung, denn ein neues wundervolles Wesen bot sich seinen Blicken dar: ein altes, hinkendes Pferd mit einem zerrissenen Strohhut auf dem Kopf, aus dem die Ohren herausragten. Das Pferd zog einen Wagen, auf dem ein ebenfalls alter Mann saß, und auch der trug einen Sonnenhut. Dieser alte Mann sammelte jeden Morgen den Müll vom Strand und fuhr ihn zum Müllplatz. Ofer stand fasziniert da, immer noch tropfend, in seinen Augen ein rundes Staunen: Das Pferd und der Wagen und der Mann zogen vor ihm vorüber, und der alte Kutscher bemerkte das kleine Kind, lächelte es aus seinem zahnlosen Mund an, nahm vor ihm in einer anmutigen Geste den ausgefransten Strohhut ab und beschrieb mit dieser Bewegung einen Moment lang den Bogen, der sich von seinem Greisentum bis zu Ofers Babyalter spannte.
    Ora hatte befürchtet, Ofer könne sich vor dem Mann erschrecken, doch er klatschte nur auf seinen kleinen Bauch, gickerte und schlug sich ein paarmal mit beiden Händen auf den Kopf, vielleicht in Nachahmung des Hutabnehmens.
    Danach trabte er los, dem Pferd hinterher.
    Er lief, ohne sich umzuschauen, und Ora ging ihm nach. Er hatte so viel Kraft, erzählt sie Avram, und überhaupt keine Angst, dieser Winzling von anderthalb Jahren.
    Ein Blättchen der Seele raschelt in Avram. Hinter seinen geschlossenen Lidern läuft ein winziges Kind den leeren Strand entlang, etwas nach vorne geneigt, nur mit einer Windel und einem Hemdchen am Leib, ganz und gar vorwärts drängend, auf etwas hin und weiter.
    Auf dem Wagen lagen Haufen von Gerümpel, Kartons, zerrissene Fischernetze, große Abfalltüten. Fliegen schwebten über ihm, und eine Gestankwolke zog hinter ihm her. Der Alte rief dem Pferd hin und wieder mürrisch etwas zu und ließ seine lange

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