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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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gut, und Reden war wirklich nicht das Wichtigste. Wir kamen auch ganz gut ohne Worte aus, haben uns prima verstanden, und ich glaube, aber vielleicht auch nicht …
    Nun sag schon.
    Vielleicht hatte ich in all den Jahren zu viele Wörter von euch beiden gehört, von dir und Ilan. Vielleicht brauchte ich etwas Ruhe.
    Er seufzt.
    Euer ganzes Reden, dieses endlose brillante Blabla, diese stetige Anstrengung.
    Ilan und ich, denkt Avram, zwei überhebliche, aber unbeachtete Hähne.
    Und ich fühlte mich immer etwas außen vor, sagt sie.
    Du? Wirklich? Das wühlt ihn auf, er weiß nicht, wie er ihr sagen soll, dass er immer das Gefühl hatte, gerade sie sei der Mittelpunkt, der Brennpunkt von ihnen beiden gewesen, die Kraft, die Ilan und ihn antrieb, auf ihre Art.
    Ehrlich gesagt habe ich mich nie für euern Zirkus begeistern können.
    Aber das war doch alles nur deinetwegen. Für dich.
    Es war zu viel.
    Sie gehen schweigend. Die Hündin hinter ihnen hält ihren Abstand ein, spitzt aber die Ohren.
    Ilan war schockiert, erzählt Ora weiter, als sie von ihren Gedanken zurückkehrt, wie unterentwickelt Adams Sprache war, so sagte er zumindest, und er brachte ihm richtiggehend Sprechen bei, verstehst du? Im Alter von fast drei hat er mit ihm einen Rekrutenkurs im Sprechen gemacht.
    Wie denn das?
    Er sprach dauernd mit ihm, brachte ihn morgens in den Kindergarten und redete mit ihm über alles, was sie unterwegs sahen. Er holte ihn aus dem Kindergarten ab und redete wieder mit ihm, fragte, was er erlebt habe, forderte Antworten, ließ nicht locker. »Väter gegen das Schweigen«.
    Avram lacht leise. Ora wird rot: Das war ihr gelungen.
    Er redete mit ihm, wenn er ihn anzog, wenn er ihn zu Bett brachte, ihm sein Essen gab. Ich hab ihn die ganze Zeit gehört, die ganze Zeit dieses Reden. Adam und ich waren an so einen Lärm nicht gewöhnt, es war nicht leicht. Auch für Adam nicht, da bin ich mir sicher.
    Mit dem Finger zeigen und »das da« sagen reichte nicht mehr. Jetzt hieß das »Türpfosten« und »Schloss«, »Regalbretter« und »Salzstreuer«. Dauernd hörte ich im Hintergrund, wie den Kratzer auf einer Schallplatte, sag »Regalbrett«. »Regalbrett«. Sag »Heuschrecke«. »Heuschrecke«.Er hatte ja recht. Das bestreite ich gar nicht. Ich spürte, er tat das Richtige, und ich sah, wie Adams Welt voller und reicher wurde, weil die Dinge plötzlich Namen bekamen. Ich konnte nur nicht … Ich konnte nicht … Siehst du, auch ich weiß jetzt nicht genau, wie ich das sagen soll.
    Es gab ihr einen Stich ins Herz, diesen ungeahnt gewaltigen Durst bei Adam zu sehen. Nach einer kurzen Schockphase begriff Adam, was Ilan ihm da anbot, und plötzlich hatte sie ein plapperndes Kind.
    Er redete und redete, von dem Moment, in dem er die Augen aufschlug, bis er einschlief, und manchmal auch im Schlaf. Und in seinem Reden, in seinem Wortschatz, der sich von Woche zu Woche verdoppelte und verdreifachte, hörte sie ununterbrochen den gegen sie gerichteten Vorwurf, sie habe die entscheidenden Jahre seiner Entwicklung vergeudet, und schlimmer noch, sie habe seine Faszination für Wörter überhaupt nicht bemerkt. Ilan hat mit ihm wie mit einem Erwachsenen geredet, erklärt sie Avram. Nicht nur im Wortschatz, auch im Tonfall. Sie hatte ihnen zugehört und es hatte sie geschmerzt: Er redete so sachlich, als wären sie Partner. Kein Echo mehr von ihrem süßen kindlichen Gebabbel mit Adam. Nur selten gab es ein Wort, das Ilan für das Gespräch mit Adam zu kompliziert erschien. Sag »Assoziation«, »Assoziation«; sag »Philosophie«, »Kilimandscharo«, »Crème brûlée« …
    Ilan erklärte Adam, dass es Synonyme gab, und so lernte Adam mit drei Jahren, dass man den Mond auch Sichel oder kleines Himmelslicht nennen konnte. Dass es nachts dunkel und düster und sogar stockfinster war. Dass er, Adam, sprang, aber auch hüpfte und hopste. (Avram lauscht, eine merkwürdige Freude regt sich in ihm, ein bisschen stolz und ein bisschen verlegen.) Ilan brachte ihm bei‚ dass »Adam sein Teller« »Adams Teller« hieß und »Papa sein Mantel« »Papas Mantel« war, und amüsierte sich stundenlang mit ihm über »Papas Sohn«, »Adams Nase« und »Papas und Adams Finger«. Ab und zu nahm Ora alle Kraft zusammen und protestierte, du dressierst ihn ja, du machst ihn zu deinem Spielzeug, und Ilan antwortete, für Adam ist das ein Spiel, wie Lego aus Wörtern. Sie wollte schimpfen, du markierst ihn jetzt als dein Territorium, aber sie sagte bloß:

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