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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Lieben finden, davon sei sie völlig überzeugt, und die würden auch viel besser zu ihm passen als sie, wohingegen der, den sie liebe, sie ihrer Meinung nach »wie die Luft zum Atmen« brauche, schrieb sie, »entschuldige die Formulierung, aber in diesem Fall ist das kein Klischee. Das empfinde ich wirklich so.« Sie fügte noch hinzu, diese Liebe liege ihr schwer auf dem Herzen und bringe sie schon seit Monaten, im Grunde seit fast einem Jahr, um den Verstand, denn ihr sei völlig klar, wie unlogisch und aussichtslos diese Liebe sei, und sie wäre glücklich, wenn sie herausbekäme, warum ihr das passiere etc. etc. Avram sandte ein Telegramm: KENNE ICH IHN? STOP IST DAS ILAN? STOP SAG MIR NUR SEINEN NAMEN UND ICH MEUCHLE IHN .
    Als sie ihm nach seinem wochenlangen Nachforschen und Drängen diesen Verdacht bestätigte, wurde er beinahe wahnsinnig. Sieben Tage lang konnte er nichts essen, wechselte seine Kleider nicht und zog ganze Nächte lang weinend durch die Straßen. Jedem, den er traf, erzählte er von Ora und erklärte mit gemessenen und wohlgesetzten Worten, warum das alles nicht nur unvermeidlich, sondern aus der Sicht der Evolution und Ästhetik und noch in anderer Hinsicht sogar notwendig und willkommen war. Natürlich verriet er Ilan das Geheimnis sofort, und der beteuerte, er interessiere sich nicht für Ora, und machte sich über ihre verrückte Idee lustig, dass er sie »wie die Luft zum Atmen brauche« – das hat sie wirklich gesagt? fragte er Avram, so hat sie über mich geschrieben? –, und er versprach Avram, niemals mit ihr Kontakt aufzunehmen.
    Zumindest nicht als Erster, fügte er etwas später leiser hinzu.
    Am nächsten Tag kletterte Avram in der großen Pause auf die riesige Kiefer im Schulhof, formte die Hände zu einem Trichter und verkündete den Dutzenden von Schülern und Lehrern, er habe beschlossen, sich von seinem Körper scheiden zu lassen, er werde ab jetzt in konsequenter und völliger Trennung von ihm leben, und um zu beweisen, wie egal ihm das Schicksal seines frisch geschiedenen Körpers sei, sprang er und knallte auf den Asphalt.
    »Jetzt liebe ich dich nur noch mehr«, schrieb er ihr mit der linken Hand am nächsten Tag aus dem Krankenhaus, »in dem Moment, als ich gesprungen bin, habe ich verstanden, dass meine Liebe zu dir für mich ein Naturgesetz ist, ein Axiom oder, wie unsere arabischen Verwandten sagen, min elbadhijaat, ein anerkannter Grundsatz. Ganz egal, wie deine objektive Situation sein wird, und wenn du mich hassen, auf dem Mond leben oder – Gott behüte – eine operative Geschlechtsumwandlung vornehmen lassen würdest, ich werde dich immer lieben, daran ist nichts zu ändern und ich kann dagegen nichts tun, außer mich umbringen/aufhängen/verbrennen/ertränken, oder etwas anderes tun, was zur Beendigung dieser merkwürdigen Lebensgeschichte führen wird, die den Titel ›Das Leben Avrams‹ trägt.«
    Sie schrieb ihm, es sei entsetzlich, dass sie beide so an enttäuschter Liebe litten, und versprach ihm noch einmal, auch wenn sie ihn nicht so liebte, wie er es gern hätte, fühle sie sich doch weiterhin als seine Seelenfreundinfürs Leben und könne sich ein Leben ohne ihn gar nicht vorstellen. Und wie in allen Briefen der letzten Zeit konnte sie es sich nicht verkneifen, nach Ilan zu fragen, wie der auf seinen Sprung vom Baum reagiert habe, ob er ihn im Krankenhaus besuche, und sie formulierte ungezügelt, gegen ihren Willen, gegen ihren Charakter, gegen die ihr sonst eigene Fairness und gegen alles, was sie gern über sich dachte, seitenlange Vermutungen über Ilans geheimste Wünsche, seine Hemmungen und sein Zögern, und immer wieder fragte sie Avram, warum sie sich seiner Meinung nach in Ilan verliebt habe, sie kenne ihn doch gar nicht, und schon seit einem Jahr (minus einen Monat und einundzwanzig Tage) habe sich ein Fremder ihrer Seele bemächtigt und diktiere ihr ihre Gefühle. Das ist doch ganz einfach, antwortete ihr Avram giftig, das ist wie ein Rätsel mit drei Komponenten: ein Brand, eine Überlebende und ein Feuerwehrmann. Wen wird deiner Meinung nach die Überlebende wählen?
    Über jeden ihrer Briefe berichtete Avram Ilan jetzt ausführlich, und der hörte zu und zuckte mit den Schultern. Schreib ihr etwas, flehte Avram, ich halte es nicht mehr aus, dass sie mich damit quält. Ilan sagte zum tausendsten Mal, er habe mit Ora nichts am Hut, und ein Mädchen, das ihm so nachrenne, stoße ihn sowieso ab. Das Problem war nur, dass er überhaupt

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