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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Umwälzungen zu gewöhnen.

    Schwarzmähnenpferd, sagt sie, das ist einer der Kosenamen, die Ilan für Adam erfand, als der vielleicht dreieinhalb war, und auch Riesenrüsselfant. Hörst du diese Worte?
    Avram murmelt sie vor sich hin und hört sie in Ilans Stimme.
    Oder er nannte ihn Schöner Eselsschrei. Solche Sachen.
    Schöner Eselsschrei?
    Ja.
    Sie hatte beobachtet, wie Adam sich vor ihren Augen veränderte. Wie er sich verbog, um Ilans Wünschen zu entsprechen. Er hat das Bild einer Katze orange angemalt und ihr erklärt: »Ich hab sie orangiert«,oder: »und jetzt lass ich gelbe Farbe runterpinseln«, und sie hatte schief gelächelt. Natürlich war sie stolz auf ihn gewesen, aber mit jedem Fortschritt dieser Art hatte sie auch das Gefühl, dass er sich weiter von ihr entfernte. Sie betrachtete ihn, wie er Ilan hinterherdackelte, und erschrak, was sie ihm gegenüber empfand. Wie hatte er diesen verbalen Drang, der ihn jetzt mit Haut und Haar gepackt hatte, bisher vor ihr geheim gehalten? Mit einer unverhohlenen Versessenheit, die sie als männlich empfand, kehrte er den Jahren, in denen er mit ihr allein in ihrem kleinen Zweierparadies gelebt hatte, den Rücken. Bambi und seine Mutter – Gott hab sie selig.
    Das schlottert mir die Knie, hatte er ihr jauchzend berichtet, nachdem Ilan ihn hoch über dem Kopf durch die Luft gewirbelt hatte, so dass ihm schwindlig wurde.
    Ja, sie rang sich ein Lächeln ab, das war süß.
    Sie hatte den Eindruck, dass, eine Weile nachdem er sich des Redens bemächtigt hatte, nun das Reden sich seiner bemächtigte. Er fing an, alle seine Gedanken auszusprechen. Sie merkte das nicht gleich. Erst nach einer Weile begriff sie, dass die ohnehin vitale Tonspur ihres Familienlebens gleichsam noch eine zweite Spur dazubekommen hatte. Er ließ alle seine Gedanken, Wünsche und Ängste sprechen. Und da er sich manchmal noch in der dritten Person ausdrückte, war das sogar sehr lustig: Adam ist hungrig, hungrig, hungrig! Warte noch ein bisschen! Nein, er will nicht länger warten, erwarten, abwarten, sich gedulden, dass Mama vom Klo kommt. Adam geht jetzt in die Küche und macht sich selber Salat, aber das Messer darf er nicht, das Messer ist gefährlich. Streichholz auch gefährlich? Nein, Dummkopf, Streichholz ist holzig.
    Nach der Zubettgehzeremonie liegt er in seinem Bett und murmelt vor sich hin. Ora und Ilan stehen hinter der Tür und lauschen mit gemischten Gefühlen. Adam muss schlafen. Vielleicht kommt ein Traum? Bärchen, weißt du, was du jetzt musst? Du musst schlafen, schlummern, ruhen, und wenn ein Traum kommt, rufst du Adam. Träume sind nicht echt, das ist bloß ein Bild in deinem Kopf, Bärchen.
    Das hat uns befremdet und ein bisschen verlegen gemacht, so als ob sein Unterbewusstes ganz offen vor uns läge. Sie wendet den Blick von Avram, will nicht, dass er sich an sein eigenes unkontrolliertes Redenunter dem Einfluss der Tablette an dem Abend erinnert, als sie ihn auf diese Wanderung entführte. Sie überlegt sich, ob sie ihm erzählen soll, wie er da über sie geredet hat, »die ist völlig durch den Wind, die ist doch durchgeknallt«.
    Schon vor seinem vierten Geburtstag kannte Adam alle Buchstaben. Mit Leichtigkeit hatte er sie gelernt, und dann war er nicht mehr zu halten. Er las. Er schrieb. In den Ritzen der Seifenstücke erkannte er Schriftzeichen. In Brotrinden, im Topf auf dem Herd. Er bestand darauf, die Worte zu lesen, die die Falten seines Bettlakens warfen, oder die Linien in seiner Hand.
    Wer bist denn du? fragte Ilan und kitzelte ihn, als er ihn in der Badewanne wusch.
    Ich bin Papaskind, kicherte er.
    Und was noch?
    Mamaskind.
    Und was noch?
    Liebeskind, Menschenskind.
    Menschenkind, hatte Ilan ihn lachend korrigiert, und was noch?
    Mondkind.
    Großes Gelächter schäumte aus dem Badezimmer bis an ihr Bett.
    Jetzt, auf dem Berg Meron, versucht sie sich zu erinnern, warum sie das damals so geärgert hat. Sie denkt, was gäb ich drum, noch einmal schwanger, mit Rückenschmerzen und müde in jenem Bett zu liegen, mit Ofer im Bauch, und das Gelächter der beiden zu hören.
    Komm, wir machen ein bisschen Pause. Das ist ja kein Berg mehr, das ist steil wie eine Leiter.
    Sie sinkt auf den Boden. So einen Aufstieg und dann noch so eine Sehnsucht, das hält ihr Herz nicht aus. Adam ist mit ihr hier, höchstens vier Jahre alt, rennt auf der Wiese herum. Seine kindlichen Bewegungen, sein forschender, zerbrechlicher, immer etwas misstrauischer Blick. Und wie er strahlt,

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