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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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es endlich vor sich selbst ausgesprochen –, und das endete erst, als sie in das Haus in Ejn Karemumzogen. Jetzt, angesichts seiner wie geblendet zusammengekniffenen Augen, als er versucht, die Veränderungen in dem Haus zu verfolgen, das mal ihm gehört hatte, kann sie sich kaum beherrschen, ihm nicht die ganze Liste der Erklärungen und Rechtfertigungen aufzuzählen, die sie immer noch bereit hält – alles hatten sie damals in guter Absicht und nur im Hinblick auf ihn und seine Bedürfnisse getan; sie hatten ihm wirklich die Makler und Käufer ersparen wollen; glaubten wirklich, er würde sich besser fühlen, wenn er wüsste, dass das Haus quasi »in der Familie blieb«. Sie kauften das Haus von ihm (für bares Geld, zu einem für ihn hervorragenden Preis!), doch sie haben darin ihr eigenes Leben gelebt, sie, Ilan, Adam und Ofer.
    Manchmal, wenn keiner es sah, hatte sie im Vorübergehen die eine oder andere Wand in den Zimmern oder im Flur berührt, die Finger langsam darüber gleiten lassen, manchmal hatte sie sich zum Lesen so hingesetzt wie er früher, auf die oberste Stufe der Treppe, die in den Hof führt, oder auf die Fensterbank, die aufs Wadi hinausgeht. Auf den Fenstergriffen ließ sie jedes Mal die Hand etwas verweilen, eine Art heimlicher Händedruck. Die Badewanne, die Kloschüssel, die rissigen Zimmerdecken, die Schränke mit ihrem gestauten Geruch. Einzelne etwas eingesunkene oder hervorstehende Bodenkacheln. Die Sonnenstrahlen morgens aus dem Osten, sie konnte stehenbleiben und für ein paar Sekunden in ihren Anblick versinken, manchmal mit dem kleinen Ofer auf dem Arm, der ganz ruhig war und sie interessiert beobachtete. Die Abendbrise aus dem Wadi, die die Haut streichelte, man konnte sich in ihr wiegen und sie tief einatmen.
    Und es war ausgerechnet Ofer, der zuerst eine Freundin mitbrachte, noch vor Adam, betont Ora und hofft, dass Avram sich über diese Information freut, doch er bekommt einen bohrenden Blick und fragt, was genau sie mit »ausgerechnet Ofer« meint. Sie erklärt, weil er doch der Jüngere war und wir irgendwie immer gedacht hatten, Adam würde der Erste sein. Aber der brauchte wohl auch hier seinen Bruder, der ihm einen Weg bahnte. Zwei ziemlich große Jungs, sagt sie verwundert, und beide die ganze Zeit zu Hause, bis Adam eingezogen wurde, bis das Militär sie trennte. Da änderte sich dann alles total. Plötzlich hatte Adam Freunde, viele Freunde, und Ofer auch, und dann fand Ofer Talia; mit einem Schlag öffneten sie sich beide undgingen hinaus in die Welt. Ja, das Militär hat ihnen auch Gutes getan, fügt sie schnell hinzu, als entschuldige sie sich dafür, als hätte Avram versucht, mit ihr darüber zu streiten. Doch bis Adam achtzehn war, bis zu seiner Einberufung, waren sie die meiste Zeit nur zu zweit, ich meine, er, Ofer und wir, wir vier zusammen – sie macht eine Bewegung, als stopfe sie Dinge in einen Koffer oder Rucksack –, und obwohl sie immer viel zu tun und zu lernen hatten und Adam seine Bands hatte, spürten Ilan und ich doch immer, dass sie primär nach innen, auf die Familie ausgerichtet sind, genauer noch, einer auf den anderen, ich hab dir ja gesagt, da war dieses Geheimnis in ihnen. Ora hält die Gurte des Rucksacks fest, ihr Kopf ist etwas nach vorne geneigt, sie sieht kaum, was vor ihr liegt, die Felsen, die Himbeerhecken, die blendende Sonne, und plötzlich kommt ihr der Gedanke, dass sich Ofer und Adam in dem großen, bedrückenden Geheimnis ein kleines, eigenes Geheimnis geschaffen haben, wie ein Iglu im Schnee, das selbst aus Schnee gebaut ist.
    Und obwohl es toll war, murmelt sie, dass sie so viel mit uns zusammen waren und mit uns überallhin gingen – unsere Leibwächter, sagte Ilan manchmal, und ich wusste nicht, ob er darüber lachte oder sich beklagte –, dass sie auf Ausflüge, manchmal auch ins Kino und sogar zu unseren Freunden mitkamen, das ist überhaupt kaum zu glauben, sie zuckt verlegen mit den Schultern, die kamen mit, setzten sich an die Seite und reden miteinander, als hätten sie sich ein Jahr lang nicht gesehen, das ist wunderbar, ich frage dich, wo sieht man so was heute noch, und trotzdem haben Ilan und ich, trotzdem hatten wir die ganze Zeit das Gefühl, dass das auch ein bisschen, wie soll ich sagen …
    Da sieht Avram in ihrem verirrten Blick sie alle vier, wie sie sich in den Räumen des ihm bekannten Hauses bewegen. Vier längliche, helle Menschenflecken mit einem diffusen Licht an den Rändern, wie Gestalten, die

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