Eine Frau flieht vor einer Nachricht
suchen ab und zu ein Fleckchen Schatten, schlafen ein, stehen auf und gehen weiter, reiben sich immer wiedermit Sonnencreme ein, er ihren Nacken, sie seine Nase, und sie klagen, dass ihre Haut so gar nicht für dieses Klima geschaffen ist. Avram schält ihr beim Gehen mit Ofers Taschenmesser den »Stock für den heutigen Tag«, diesmal einen dünnen, etwas gebogenen und vielleicht von Ziegen angenagten Eichenzweig; nicht besonders bequem, verkündet sie, als sie ihn ausprobiert, aber er hat Charakter, und deshalb behalte ich ihn.
Als Jugendliche haben sie sich kaum umarmt, erzählt sie jetzt, als sie auf einem Steinhaufen im Schatten einer großen Pistazie auf dem Gipfel des Jawneel sitzen, an einem wunderbaren Punkt, von dem man alle auf einmal sehen kann, den See Genezareth, den Golan, den Gilead, den Meron und den Berg Gilboa, Samaria und sogar den Carmel. Sie hatte gespürt, dass der Körper des jeweils andern bei den Jungs eine gewisse Verlegenheit auslöste, und das war ihr merkwürdig vorgekommen: Sie haben doch beide im selben Zimmer gewohnt und, als sie klein waren, auch immer zusammen geduscht. Aber den Körper des andern zu berühren … Noch nicht einmal mit Schlägen, denkt sie jetzt, nur als sie klein waren, haben sie manchmal, auch nicht oft, miteinander gerauft, aber nachdem sie in die Pubertät kamen – fast nie.
Was hätte sie darum gegeben zu wissen, ob sie sich je über ihre Pubertät unterhalten haben, über die Veränderungen in ihrem Körper oder zum Beispiel über Mädchen, übers Onanieren und Schmusen. Wohl eher nicht. Sie nimmt an, dass das körperliche Erwachsenwerden sie beide verlegen gemacht hat, als wäre da eine fremde Kraft von außen in die Intimität ihres Lebens als Bruderpaar eingedrungen. Nicht selten hatte sie sich und auch Ilan gefragt, was haben wir bei ihrer Erziehung falsch gemacht? Haben wir uns in ihrem Beisein nicht genug umarmt? Haben wir ihnen nicht genug gezeigt, wie das ist, wenn man sich liebt?
Schon sonderbar, sagt sie mit einer Stimme, die belustigt klingen soll, wie keusch und schamhaft meine Söhne sind. Ich hab sie immer zu dreckigen Witzen, anzüglichen Bemerkungen und auch zu Schimpfworten verleitet, was ist schon dabei, und Ofer hat, als er klein war, gern mitgemacht, hat auch solche Schweinereien gesagt und ist dabei furchtbar rot geworden, aber als sie größer wurden, vor allem, wenn sie mit uns zusammen waren – eigentlich nicht mehr.
Das ist Ilan mit seinem verdammten Puritanismus, denkt sie, immer auf der Hut, dass man bei ihm, Gott behüte, keinen Zipfel seines Jackenfutters sieht, manchmal hatte ich das Gefühl – du wirst lachen –, dass sie meinten, sie müssten unsere Unschuld beschützen. So als wüssten wir nicht, was Sache ist. Komm, gehn wir weiter. Das nervt mich.
Der Weg – ausgetrocknete Erdschollen, nackte Steine, feine, grasartige Pflanzen, niedergetrampelt und schon wieder sprießend. Hier und da eine bescheidene weiß-gelbe Hundskamille, um deretwillen der Fuß einen größeren Schritt macht, und dann einfach trockene Blätter des letzten Frühlings, löchrig und zerbröselt, durchsichtig, nur das Blattgerippe ist noch übrig. Ein felsiger Weg, gelb, staubig, nichts Besonderes, solche gibt es Tausende, mit welkem Reisig und dem orangebraunen Staub von Kiefernpollen; eine Reihe schwarzer Ameisen trägt Körnchen oder einen halben Sonnenblumenkern, und hier das tiefe Loch eines Ameisenlöwen, und hier graugrünliches Flechtengewebe auf den gesprungenen Steinen und Felsen, ab und zu ein schwarz glänzendes Häufchen von Hirschlosung oder das aufgelockerte braune Nest einer Ameisenkönigin, die von ihrem Jungfernflug zurückkam. Hör mal, sagt Ora und ergreift seine Hand, ich sage dir, die Wege hier im Land machen Geräusche, die ich nirgendwo sonst gehört habe, und sie gehen weiter und lauschen, rrrrsch, rrrrsch, wenn der Schuh über die Erde schleift, oder rrch-rrch, wenn nur die Schuhspitze auf den Weg tritt, und chchcchsch, chchchsch, wenn sie einfach so gehen, oder chwasch, chwasch, wenn sie energisch gehen, und das schnelle Klopfen von rrischschrsch, wenn kleine Steinchen wegspritzen, oder chrap, chrap, wenn sie über dornigen Becherstrauch hinweggehen, was ein Glück, dass sie alle auf Hebräisch so passende Konsonanten haben, sagt sie, versuch mal, diese Klänge auf Englisch oder Italienisch zu beschreiben; vielleicht kann man sie ja wirklich nur auf Hebräisch so genau ausdrücken? Du meinst, die Wege hier reden
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