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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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ausbreitete, ein Schweigen, mit dem ihre Mutter ihren Vater für Sünden strafte, von denen er keine Ahnung hatte.
    Sofort war Ora damals wie eine flinke Zaubernadel zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter hin und her gesaust, hatte den aufgerissenen Moment wieder zusammengeflickt, durch den ihre Eltern beinah in den Abgrund gestürzt wären.
    Das Schweigen im Restaurant dauert nie länger als eine Minute, entnimmt Avram Oras Gestammel, ihrem gesenkten Blick, aber das ist eine verfluchte Ewigkeit, und allen ist klar, man muss anfangen zu reden, das Schweigen auftauen, aber wer fängt an, wer meldet sich freiwillig, wer wird als Erster einknicken und etwas sagen, sogar etwas Dummes – Dummes, das ist ihre Abteilung, weiß Ora, schon eine kleine Peinlichkeit wäre hier hilfreich; etwa die Geschichte von der sehr beleibten Russin, die sich diese Woche bei dem Platzregen zu ihr unter den Schirm gedrängt hatte. Sie hatte nicht gefragt, sich nichtentschuldigt, sondern Ora nur lächelnd gesagt: »Wir gehen jetzt ein bisschen zusammen«; oder soll sie von der alten Junggesellin erzählen, die sie diese Woche wegen eines umgeknickten Knöchels behandelt hat und die ihr etwas verlegen, aber doch begierig, ihr Patent, Hefeteig aufgehen zu lassen, verriet: Sie nehme ihn mit ins Bett, lege sich mit dem Teig im Schoß zum Mittagsschlaf, und so gehe er unter der Decke das erste Mal auf! Ja, sie redet einfach drauflos, und alle lachen herzlich und wundern sich, wie die Russin Oras grenzenlose Hilfsbereitschaft sogar während eines Platzregens zielsicher erkannt hat, und sie machen sich über die Alte mit dem Hefeteig lustig und über ihre anderen Patienten, überhaupt über ihre Arbeit, die ihnen etwas merkwürdig vorkommt – einfach zu einem Fremden hinzugehen und ihn anzufassen? Und die kleine Flamme, die sie entzündet hat, wird aufflackern und brennen, und sie werden es warm und gut haben, verstehst du, was ich meine? Siehst du das Bild, oder rede ich bloß …
    Er nickt gebannt. Vielleicht hat er in seinem Pub doch einiges gesehen, denkt sie, oder in dem indischen Restaurant, oder wenn er draußen unterwegs war, in der Stadt und am Meer. Vielleicht hat er seinen typischen scharfen Blick von früher ja doch nicht aufgegeben, sondern bemerkt, verfolgt, heimlich hingeschaut, mitgehört und all das in sich aufgenommen, ja, es würde zu ihm passen wie zu einem Detektiv, der Beweise für ein Verbrechen von unvorstellbarem Ausmaß sammelt – die Spezies Mensch.
    Danach ist es schon in Ordnung, danach sind wir ganz bei der Sache, wir alle, lachen, sticheln und reden – und meine drei sind so geistreich und scharfsinnig, zynisch und entsetzlich makaber, sagt sie, so wie Ilan und du früher, genau so. Aber Avram schmerzt es, denn er spürt, wie sie jetzt das Gefühl zu vertuschen versucht, dass ihr in diesen Gesprächen immer etwas entgeht, der geheime Blitz zwischen ihren drei Männern, von dem sie nur den Donner danach mitkriegt. Wenn dann das Essen kommt, beginnt ein reger Tauschhandel, den mag sie am liebsten, Teller und Schüsselchen wandern von Hand zu Hand, Gabeln stochern mal hier und mal da, alle vier kosten, vergleichen, kritisieren, bieten einander an, was gerade vor ihnen steht. Eine Atmosphäre der Großzügigkeit und des Genießens breitet sich aus. Nun kommt endlich: Wir – eine Familie im Glück. Was gesprochen wird,bekommt sie nur noch in groben Zügen mit, das Gespräch ist nicht die Hauptsache, es lenkt sogar in gewisser Weise von der Hauptsache ab. Sie hat den Eindruck, dass sie über sich selbst lachen, über das Hin und Her der Teller und darüber, was die Leute an den anderen Tischen wohl über sie denken; oder sie unterhalten sich übers Militär, über eine neue CD, worüber ist nicht wichtig, auf diesen Moment kommt es an: die Geborgenheit in der Familie.
    So ein Scheiß, hörte sie Ofer zu Adam sagen, vor allem zu Adam, den ganzen Sommer haben wir in Nebi Mussa Fliegen totgeschlagen, und dann stellt sich heraus, wir haben bloß die schwachen erwischt und damit eine Generation starker Fliegen herangezogen, die unseren Angriff überlebt haben und jetzt nur noch ihr starkes Erbgut weitergeben. Sie lachten. Beide haben schöne Zähne, dachte Ora. Adam beschrieb die Ratten, die, wenn er beim Reservedienst ist, in der Küche frei herumlaufen. Ofer dankte es ihm mit einem noch höheren Trumpf: Ein Fuchs, womöglich mit Tollwut, der, als alle pennten, ins Zimmer seiner Panzerbesatzung geschlichen kam und aus einem

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