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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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und sie hat den Eindruck, die Luft im Restaurant habe sich plötzlich unerträglich erwärmt, und jetzt begreift sie, was passiert, sie spürt die Anzeichen, sie ist schweißüberströmt. Solche Anfälle hat sie schon gehabt, solche Ausbrüche – das ist rein körperlich, nichts Schlimmes, Hitzewellen, das Toben des Klimakteriums, das liegt außerhalb jeder Kontrolle, eine kleine Intifada des Körpers. Am Ende eines Ausbildungsabschnitts bei der Abschlusszeremonie war es passiert, auf dem Appellplatz in Latrun, als die ganze Parade vor der riesigen Mauer mit den Tausenden Namen der Gefallenen vorbeizog, und in Nebi Mussa bei einer von seinem Regiment für die Eltern veranstalteten Vorführung der Einheit in Bewegung und beim Schießen, und bei noch zwei oder drei anderen Anlässen. Mal hatte sie aus der Nase geblutet, mal hatte sie sich übergeben, ein andermal hysterisch geweint, und jetzt – sie blickt sich verängstigt um – Durchfall? Kann sein, dass sie es nicht mehr bis zur Toilette schafft, so stark ist das, und sie verkrampft sich und reißt sich zusammen, man sieht die Anstrengung auf ihrem Gesicht, wie kommt es, dass keiner merkt, was mit ihr los ist? Sie lässt den Blick erschöpft von Ilan zu Ofer und Adam gleiten, sie unterhalten sich, komm, lass sie lachen, lacht ihr ruhig, denkt sie, lasst ein bisschen die Anspannung der letzten Woche raus, doch in ihrem Körper: der totale Zusammenbruch, sie ist eine Hülle, in ihr ist alles flüssig. Eine Kokosnuss. Vielleicht sind sie auch Schauspieler? Hat man ihr vielleicht überhaupt die Familie ausgetauscht? Ihr Herz pocht furchtbar stark. Wie kommt es, dass sie es nicht hören, dass sie ihr Herz nicht hören? Einsamkeit schließt sich um sie, der Keller ihrer Einsamkeit als Kind, und heiß ist es hier, meine Güte, als hätten sie plötzlich alle Öfen angeschaltet und die Fenster geschlossen. Und außerdem stinkt es. Furchtbar. Sie kriegt kaum noch Luft. Sie muss sich wieder fassen und darf sich vor allem nichts anmerken lassen, diesen wunderbaren fröhlichen Abend, der sich hier entwickelt, nicht versauen, siegenießen es so, haben solchen Spaß, da wird sie ihnen mit den Sperenzchen ihres Körpers, der plötzlich so ein Sensibelchen geworden ist, keinen Strich durch die Rechnung machen. Gleich wird sie sich wieder unter Kontrolle haben, das ist eine Frage des Willens, einfach nicht daran denken, mit welchem Ernst, welchem Verantwortungsbewusstsein er gesagt hatte, aber Papa, das ist meine Aufgabe, zu genau diesem Zweck stehe ich da, dass er mit mir hochgeht und nicht in Tel Aviv. Und jetzt, vor den lachenden Gesichtern von Ilan, Adam und Ofer, mein Gott, da kommt er schon wieder, er ist schon wieder da, in dieser sanften Beleuchtung, zwischen den schlanken Libellen – »Alles in Ordnung?«, »Alles gut so?« –, und er springt tatsächlich mit beiden Beinen auf den Tisch und scheißt einen riesigen Haufen, und eine entsetzliche Welle rollt in ihr an, gleich wird sie keinen Platz mehr in ihr haben, wird ihr sogar aus dem Mund spritzen, aus den Augen, aus den Nasenlöchern, und sie macht verzweifelt alles zu, all ihre unzuverlässigen Löcher, eins nach dem andern, und alles, was sie über ihn denken kann, ist nur dessen Erleichterung, die gewaltige, skandalöse Erleichterung dieses Scheusals, das mit zwei kräftigen Beinen auf den Tisch gesprungen ist und so, zwischen den weißen Tellern und den dünnwandigen Gläsern, den Servietten, dunklen Weinflaschen und den Spargelstengeln, sich hingehockt hat und eine Riesenportion giftig stinkende Scheiße geschissen hat, und Ora kämpft mit sich, versucht ihren Blick von der Mitte des Tisches zu lösen, von diesem nackten Monster, das da hockt und sie verführen will, nein, er wird sie noch von innen aufsprengen; wartet einen Moment, zwitschert sie anmutig und wackelt mit zusammengepressten Lippen eilig auf die Toilette.

    Und einmal, am Anfang seines Dienstes in den besetzten Gebieten, das ist schon lange her – erzählt sie Avram, ich erwähne das in Klammern, es hat gar nichts mit diesem Abend im Restaurant zu tun, aber plötzlich ist es mir wieder eingefallen –, sie wohnten schon in Ejn Karem, da hörte Ora ein merkwürdiges Geräusch von der Treppe, die auf den Weg unterhalb des Hauses führt, und sie ging dem Geräusch nach bis ans Ende des Gartens und sah Ofer da sitzen, in kurzen Hosen und in einem Hemd vom Militär – auch damals war er auf Kurzurlaub –, er saß da und schnitzte mit dem

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