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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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auch von Gefangennahme und Freilassung, und sogar davon, jemandem das Maul zu stopfen. Warum hatte da keine Alarmglocke in ihm geläutet, wieso hatte er keine gedankliche Verbindung hergestellt, wenn auch nur undeutlich und vernebelt, zwischen all dem und dem alten Mann, der mit zugeklebtem Mund gefangen war im Kühlraum im Keller dieses Hauses in Hebron.
    Er ist einfach furchtbar müde gewesen, murmelt sie wieder, ohne Zusammenhang. Er hatte die Augen halb geschlossen und konnte den Kopf kaum noch aufrecht halten, zwei Tage und zwei Nächte hatte er nicht geschlafen, und auch noch die drei Bier, aber das Bingospiel und das Gelächter haben ihn irgendwie wach gehalten.
    Einen Moment hatte es gegeben, denkt sie, in dem er sich wohl dumpf erinnerte. Plötzlich hatte er Adam um sein Handy gebeten, um beim Militär anzurufen. Sie sieht, wie er es in der Hand hielt. Seine Augenbrauen bewegten sich, hinter seiner Stirn arbeitete es. Durch die Müdigkeit hindurch versuchte er, sich an etwas zu erinnern.
    Doch dann sah er das Display, war beeindruckt von dem neuen Gerät, entdeckte eine Funktion, die er nicht kannte, und Adam erklärte sie ihm.
    Ora sagte, Ofer, du hast Adam noch nicht zu Ende gratuliert.
    Muss nicht sein, sagte Adam kurz und machte sich über sein Steak her.
    Das ist nicht fair, kokettierte Ora, er hat noch gar nichts gesagt.
    Nur wenn er will, sagte Adam und meinte warnend zu Ofer, und bitte ohne Geigen.
    Ofer wurde wieder ernst. Sein Gesicht wirkte jetzt abwechselnd ganz weich und dann wieder knochig. Seine hübschen, großzügigen Lippen – Avrams Lippen – bewegten sich, ohne dass er es merkte. Er legte die Gabel aus der Hand. Ora beobachtete, wie Adam und Ilanerheiterte Blicke tauschten: Vorsicht, sagten diese Blicke, legt schon mal die Taschentücher bereit.
    Und wirklich, sagte Ofer, ich weiß nicht, wie ich im Leben ohne dich zurechtgekommen wäre, wenn du dich in bestimmten beschissenen Situationen, von denen die Eltern überhaupt keine Ahnung haben, nicht um mich gekümmert hättest.
    Das war eine Überraschung. Ora hatte sich aufgerichtet, Ilan auch. Wir kannten ja nur die umgekehrte Situation, sagt sie, nur Ofer, der sich um Adam kümmert. Und plötzlich ermöglichte er uns den Blick in eine Welt, von der wir nichts wussten und von der ich immer gehofft hatte, dass sie dennoch existiert, verstehst du? Verstehst du mich? Avram nickt heftig und schiebt die Unterlippe so weit vor, dass sie fast die Nase berührt. Und ich habe gesehen, wie Adam die Augen niederschlug und am Hals ein bisschen rot wurde, erzählt Ora, da hab ich gewusst, dass es stimmt.
    Ich denke, sagte Ofer, es gibt auf der Welt keinen anderen Menschen, der mich so kennt wie du, der die intimsten Dinge über mich weiß und mir, seit ich auf der Welt bin, nur Gutes getan hat.
    Adam gab keinen Kommentar ab, löste auch nicht die Spannung mit einem Witz. Sie hatte den Eindruck, er wollte, dass sie und Ilan das hörten.
    Niemand anderem vertraue ich so wie dir, niemand anderen schätze und liebe ich wie dich.
    Ora und Ilan senkten die Köpfe, damit die Jungs ihre Augen nicht sahen.
    Auch wenn ich mich oft über dich aufgeregt habe, vor allem, wenn du mir alles Mögliche gepredigt hast oder dich über meinen Musikgeschmack lustig gemacht hast.
    Guns N’Roses machen aber auch wirklich keine Musik, brummte Adam, und Axl Rose ist kein Sänger.
    Aber damals wusste ich das nicht und war stinksauer, dass du mir die mies machst. Und am Ende hab ich gesehen, dass du recht hattest. So hast du mich in allem weitergebracht, sagte Ofer, und mich vor allerlei Unfug bewahrt; auch wenn du nicht der starke große Bruder warst, mit dem ich andern Kindern, die mich verhauen haben, drohen konnte, ich hatte trotzdem immer das Gefühl, dass mir einerden Rücken stärkt und dass du nicht zulassen würdest, dass mir einer was tut.
    Ofer wurde rot, begriff vielleicht er erst jetzt, was für eine Offenheit er sich hier erlaubt hatte.
    Es folgte eine lange Stille. Alle hielten den Kopf gesenkt. Sie rührten an die Wurzeln der Dinge. Ora wagte nicht zu atmen, betete, dass Ilan jetzt keinen Witz machte. Dass in keinem von ihnen jetzt der Stand-up-Comedian-Reflex ausgelöst würde.
    Zum Wohl, sagte Ilan leise, auf unsere Familie. Er hatte Tränen in den Augen, schaute Ora dankbar an und stieß auf sie an.
    Na denn Prost, sagten Adam und Ofer, und zu Oras Überraschung schauten auch sie zu ihr und hoben ihr Glas auf sie. Auf unsere Familie, fügte Ofer leise

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