Eine Frau flieht vor einer Nachricht
überschatteten Wegen zwischen Feldern und Baumplantagen hindurch: Ora bleibt ein bisschen zurück, ein Schatten hat sich auf sie gelegt, sie weiß nicht, was das ist, wie ein nicht genau zu bestimmender Schmerz, und schon ist die kleine Hoffnung von vorher verflogen und wirkt jetzt dumm und hohl.
Avram denkt an Ofer, der ist jetzt dort, er versucht, ihn sich dort vorzustellen, zwingt sich, in diese Straßen und Gassen, doch in seinem Kopf gibt es nur eine einzige wiederkehrende Szene des Krieges, die immer wieder in ihm aufsteigt, in einem völlig leeren Raum, den er niemals betritt; fünf solche Räume hat Avram, dunkel und leer, in jedem wird ein anderer Film gezeigt, wenn er sich niederlegt und wenn er aufsteht, ununterbrochen, und diese Vorstellung läuft immer, the show must go on, und die Stimmen aus den Filmen dringen fern und undeutlich an sein Ohr, doch er geht nicht hinein.
Mit jedem Schritt wird Ora von einer neuen Angst gepackt. Vielleicht macht sie es nicht richtig, vielleicht hat das ganze Bild sich verkehrt, vielleicht ist es gerade andersherum: Je mehr sie Avram von Ofer erzählt, umso mehr nimmt Ofers Leben ab?
In dieser bedrückenden Enge stößt sie die Worte hervor: Ich frage mich, was für ein Mensch wird er sein, wenn er von dort zurückkommt.
Ja, flüstert Avram an ihrer Seite, daran hab ich gerade auch gedacht.
Ich schaffe es nicht, mich zu zwingen und mir vorzustellen, was er dort sieht, was er da macht.
Ja, ja.
Es kann doch sein, dass er von dort als ein völlig anderer Mensch zurückkehrt.
Gebeugt laufen sie, unter einer schweren Last.
Aber vielleicht ist er auch schon immun, sagt sich Ora, nach der Sache in Hebron kann er vielleicht alles aushalten? Was weiß ich schon, was weiß ich denn wirklich von ihm? Vielleicht ist er tatsächlich besser für das Leben hier geeignet als ich.
Wenn ich bloß, denkt sie, wenn ich damals nur mein Riesenmaul gehalten hätte, dann hätte ich heute vielleicht noch eine Familie. Dabei hatten die drei, Ilan, Adam und Ofer, sie die ganze Zeit gewarnt und ihr auf tausendundeine Art angedeutet, dass es Situationen und Angelegenheiten gab, zu denen man besser schwieg, einfach nur die Klappe hielt, man musste ja nicht den ganzen Bewusstseinsstrom immer gleich senden, oder? Und erst nachdem alles bereits passiert war, hatte sie begriffen: Sie hatten sich während dieser ganzen Zeit auf jede mögliche Situation vorbereitet und von Anfang an und ohne jeden Zweifel gewusst, dass so eine »mögliche Situation« irgendwann eintreten würde, das war ja auch nicht schwer vorauszusehen, wenn Adam und Ofer dort sechs Jahre lang dienten, jeder drei Jahre, in Patrouillen, an den Checkpoints, bei Verfolgungsjagden und Hinterhalten, bei nächtlichen Fahndungen und bei Demonstrationen, die man unterdrücken musste, da war es doch ganz unmöglich, dass nicht irgendwann mal eine »Situation« eintrat. So eine Männerweisheit, die sie wahnsinnig machen konnte, brodelt es in Ora, und wie schön sie sich eingebunkert hatten, ihre drei, und nur sie lief zwischen ihnen noch ungepanzert herum, nackt, wie ein kleines Mädchen. »Du bist kein kleines Mädchen mehr«, hatte Adam ihr mal bei so einer familiären Diskussion an den Kopf geworfen. Worum ging es damals? Um die Sache mit Ofer oder um etwas anderes? Wie willst du dich daran erinnern? Bis sie überhaupt kapiert hatte, wovon er sprach und was er da andeutete, waren sie schon beim nächsten Thema, in erstaunlicher Schnelligkeit, flink wie Taschenspieler wechselten sie in dieser Zeit ihre Themen, wenn sie wieder mit ihrer Leier anfing. Interessant, was Avram dazu sagen würde.
Avram geht eilig seine Räume ab, fünf sind es, wie die Finger einer Hand. Früher waren es mehr, viel mehr, doch unter größten Anstrengungen hatte er in den letzten Jahren ihre Zahl reduziert, es überstieg seine Kräfte, sie alle gleichzeitig präsent zu halten, das ging über seine Verhältnisse. Er geht an den geschlossenen Türen vorbei, er rennt hin und her, zählt die Räume an den Fingern beider Hände ab – die zweite Hand dient nur zur Sicherung –, und er horcht einen Moment hin, er muss die Geräusche von drinnen hören, den Ton der Vorstellung, die da ununterbrochen gezeigt wird, Tag und Nacht, schon seit fünfundzwanzigJahren, und sie verliert kein bisschen von ihrer Frische. Hier und da schnappt er einen Satz auf, manchmal genügt ihm ein Wort, um zu wissen, wo die Handlung gerade steht, und manchmal denkt er, wenn er doch nur
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