Eine Frau flieht vor einer Nachricht
endgültig zumachen könnte, Licht aus, auch jene fünf Filme vernichten, die noch übrig sind, doch andererseits, der Gedanke an die Stille danach ist so entsetzlich, dieser hohle Klang, das Pfeifen des Windes beim endlosen Fall in den Abgrund.
Wieder zählt er heimlich an den Fingern ab, fährt mit dem Daumen über die anderen Finger, er muss das ab und zu tun, wenigstens einmal pro Stunde, das ist Teil seiner Verpflichtungen, Teil seiner Selbsterhaltung. Es gibt den Film vom Krieg und den von der Zeit danach, mit den Operationen und Krankenhausaufenthalten, den Film der Verhöre in Israel durch die Führungsoffiziere vom Allgemeinen Sicherheitsdienst und beim militärischen Nachrichtendienst, den Film vom Leben von Ilan, Ora und ihren Kindern und natürlich den von der Gefangenschaft, von Abassija, den hätte er eigentlich zuerst nennen müssen, vor allen anderen, im ersten Raum, er hatte vergessen, dort anzufangen, das ist nicht gut, die Gedanken an Ofer haben ihn wohl verwirrt, die Gedanken an Ofer, der jetzt kämpft. Da ist nicht gut.
Wieder rennt er mit dem Daumen über seine Finger. Der erste, der zählt, der Daumen, ist natürlich der aus der Gefangenschaft, den darf man auf keinen Fall beleidigen, und natürlich muss er jetzt ein kleines Versöhnungsopfer für diesen eklatanten Fehler darbringen, für diese beschämende, beleidigende und unerhörte Verletzung, die er ihm zugefügt hat. Der zweite, das ist der Krieg; und das Krankenhaus und die Behandlungen sind der dritte. Die Verhöre hier im Land sind in Raum vier, und die Familie von Ora und Ilan ist in Raum fünf.
Um die Ordnung wieder herzustellen, steckt er die Hand in die Hosentasche und kneift sich heimlich, quetscht seinen Oberschenkel, drückt die Fingernägel tief in sein Fleisch, Daumen und Zeigefinger wie in fremdes Fleisch, wie konntest du es wagen, wie konntest du vergessen, mit der Gefangenschaft anzufangen. Und im Weitergehen fällt er auf die Knie und fleht den großen bärtigen Verhörer an, Doktor Aschraf mit den entsetzlichen sehnigen Fingern, fängt an zu erklären: Das passiert mir eigentlich nie, das wird nie wieder vorkommen. Tiefer ins Fleisch, die Haut reißt auf, schön, jetzt redest du endlich, jetztsiehst du deinen Fehler ein, und schon breitet sich die Feuchtigkeit aus, im Stoff und an den Fingerspitzen.
Ora steht ihm gegenüber, hält sein Gesicht in ihren Händen, Avram, schreit sie in ihn hinein wie in einen leeren Brunnen, Avram! Er schaut sie mit toten Augen an, er ist nicht hier, wie wahnsinnig rennt er zwischen seinen dunklen Räumen hin und her. Avram, Avram, ruft sie in ihn hinein, entsetzt, sie kämpft, sie gibt nicht auf, sie hat die Kraft dazu. Langsam kehrt er zurück, in zögernden Wellen taucht er auf, seine Pupillen füllen sich wieder, er lächelt beschämt.
In der Gegend von Kfar Schamai treffe ich zwei Jeschiwastudenten, Neu-Bekehrte. Schalomi und Eliahu-Chai. Es sieht schön aus, wie sie hier zusammen durch die Berge wandern, in so einer Zweisamkeit, meist mit dem Gebetsschal unterm Arm und einem Buch mit Psalmen in der Hand, und sie unterhalten sich mit großer Begeisterung.
Schalomi (bärtig, dünn, mit Sonnenbrille und einer großen wollenen Kippa, ein Spaßmacher, lacht viel): »Wir sehnen uns nur nach dem Heiligen, Er sei gepriesen, schreiben Sie in Klammern: nach dem Vater . Das ist eine Sehnsucht nach völliger Güte, eben so, wie du dich nach einem Vater sehnst, der dich verwöhnt, dir Gutes tut. Dir ist nicht heiß und nicht kalt, es ist nicht zu trocken und nicht zu feucht, alles ist gut. Alles ist genau richtig. Nach Menschen? Nach Menschen sehne ich mich überhaupt nicht. Ich war nie der Typ, der sich nach Menschen sehnt.«
Eliahu-Chai ( 22 , ursprünglich aus Rosch HaAjin): sehnt sich danach, dass es wieder Propheten geben wird. Das wäre eine solche Vertiefung der Erkenntnis, alle würden Gott erkennen und ganz automatisch von ihren Untugenden ablassen.
Schalomi: »Nach einem sehne ich mich doch: nach dem Meer. Schreiben Sie auf: Er sehnt sich danach, zu baden, zu schwimmen und zu segeln. Sie müssen wissen, ich habe mich erst jetzt bekehrt. In meinem früheren Leben bin ich gesegelt. Mit allem, womit man irgendwie segeln kann, war ich schon unterwegs. Bis an die Enden der Welt. Bis Japan und Australien. Danach hab ich mich bekehrt, wegen dieser Sehnsucht, von der ich Ihnen schon erzählt habe: nach einem Vater.«
Eliahu-Chai: »Und schreiben Sie auch auf, dass ich den Bau des
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