Eine Frau flieht vor einer Nachricht
fühlte, dass er ihren Geschmack – sprich ihre vielen Geschmäcker auf einem Haufen – durchaus mochte. Auch als sich das Verhältnis zwischen ihnen eintrübte und ihr Zusammensein sich in angsterregender Geschwindigkeit entleerte, glaubte sie weiter, seine Sympathie für das Haus, das sie eingerichtet hatte, sei ein Zeichen dafür, dass noch ein gesunder Sinn in ihm pulsierte, trotz allem, was er sich in letzter Zeit angewöhnt hatte, trotz seiner Ungeduld, seiner Unzufriedenheit und seinem Rumkritisieren an allem, was sie tat und sagte, und im Grunde an allem, was sie war. Sie glaubte, hinter der Fassade seines Sichabwendens, hinter der höflichen Sorge um sie und dem Anschein der Fairness, den er ihr gegenüber wahrte, und obwohl er im Kleinen wie im Großen ihre Liebe und ihre Freundschaft leugnete und ihr bei der Trennung »Mit dir bin ich fertig« entgegengeschleudert hatte, wisse er trotzdem noch immer, dass er keine bessere Frau, Freundin, Geliebte und Gefährtin als sie habe, und auch jetzt, wo sie beide schon auf die fünfzig zugingen und er sich buchstäblich bis ans andere Ende der Welt vonihr entfernt hatte, wisse er im Innersten seines Herzens doch, dass sie nur gemeinsam das tragen konnten, was ihnen, als sie jung, beinah noch Kinder gewesen waren, passiert war.
Wie hatte Ilans Gesicht geleuchtet, erinnerte sie sich – es war während des Militärdienstes im Sinai gewesen, sie waren neunzehneinhalb, Ilan träumte noch immer davon, Filme und Musik zu machen, und Avram war damals noch Avram –, als er ihr erzählte, wie sehr es ihn immer wieder packe, wenn er im Buch der Könige lese, was die große Sunamiterin sagte, als sie ihrem Mann vorschlug, dem Propheten Elisa einen Ort in ihrem Haus einzurichten, wo er sich, wenn er in der Gegend unterwegs war, ausruhen konnte: Lass uns ihm eine kleine Kammer oben machen, hatte Ilan ihr aus der kleinen Militärbibel vorgelesen, und Bett, Tisch, Stuhl und Leuchter hineinstellen, damit er dort einkehren kann, wenn er zu uns kommt.
Sie hatten auf seinem schmalen Bett in seinem Zimmer im Camp gelegen. Avram hatte wohl freigehabt und war zu Hause. Sein leeres Bett stand ihnen gegenüber, und an der Wand darüber war in seiner Handschrift mit Kohle geschrieben: Es ist nicht gut, dass der Mensch sei . Das »allein« hatte er weggelassen. Ihr Kopf lag in Ilans Achselhöhle. Er las ihr weiter vor, bis zum Ende des Kapitels, und strich mit seinen Musikerfingern durch ihr Haar.
Langsam stellte sich heraus, dass es sich nicht um den Süden Tel Avivs, sondern um Jaffa handelte, und nicht um ein Krankenhaus, sondern um das Gebäude einer Grundschule, die Sami erst nach langem Suchen und Umherirren fand. Jasdi hatte sich auf der Autobahn etwas erholt. Er saß nun aufrecht, schaute aus dem Fenster, fasziniert vom Anblick der Straßen. Ab und zu wandte er den Blick zu Ora, als könne er nicht glauben, dass es all das wirklich gab. Hinter Samis Rücken entspann sich zwischen ihnen ein Spiel: Er schaut sie an, sie lächelt, er schaut wieder aus dem Fenster und wirft ihr im nächsten Moment über die Schulter noch einen heimlichen Blick zu. Als sie die Küstenpromenade entlangfuhren, sagte Sami zu ihm, schuf al-bachr , schau, Junge, und der Junge reckte den Kopf und die Schultern, doch das Meer hinter den Straßenlaternen lag im Dunkel, und er konnte nur ein paar schäumende Furchen sehen. Der Junge murmelte bachr, bachr ,Junge, Junge, er öffnete die Hand, und seine Finger spreizten sich. Ora fragte ihn, hast du noch nie das Meer gesehen? Er antwortete nicht. Wahrscheinlich hatte er sie nicht verstanden. Sami lachte, wo soll er das Meer denn sehen? Auf der Promenade von Dehaische? Eine Brise brachte den Geruch des Meeres zu ihnen, Jasdis Nasenlöcher weiteten sich, rochen, schmeckten. Auf seinem Gesicht lag ein merkwürdiger, beinah gequälter Ausdruck, als könne er das Glück nicht fassen.
Danach überwältigte ihn die Krankheit wieder. Er legte sich hin, seine Hände und sein Kopf zuckten, er sah aus wie einer, der Dingen ausweicht, die nach ihm geworfen werden. Immer wieder wischte Ora ihm mit einem Papiertaschentuch den Schweiß ab, und als die ausgingen, benutzte sie einen Lappen, der unter dem Sitz vor ihr lag. Auch eine Plastiktüte fand sie dort, darin waren seine Anziehsachen, die Unterhose, ein paar Socken, ein T-Shirt mit Ninja-Schildkröten, das früher Ofer gehört hatte und an Samis Kinder weitergewandert war, auch ein Schraubenzieher mit auswechselbaren
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