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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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alle Informationen, werteten sie aus, wogen ab und verwarfen den Gedanken. Es war ein ganz unpersönlicher Mechanismus, der da in ihr ablief, ein ausgefeiltes System von erworbenen Reflexen. Sie hatte kaum Zeit zu verstehen, was sie tat. Es war der Bruchteil einer Sekunde, mehr nicht. Sie hatte die ganze Welt einmal umkreist und war wieder an ihren Platz zurückgekehrt, und auf ihrem Gesicht rührte sich nichts.
    Sami hatte vielleicht bemerkt, was in ihr vorging, vielleicht auch nicht. Man sah es ihm nicht an. Auch er, dachte sie, hat damit Erfahrung. Starr wie ein Koloss saß er da, nur ein Finger trommelte auf derGangschaltung. Das Gesicht des Polizisten, spitz, fuchsartig, mit angelegten Ohren, das Gesicht eines Kindes, viel zu früh vom Leben gemeißelt, erschien wieder, diesmal im Rahmen ihres Fensters. Wem gehören die zwei Rucksäcke? Mir, ich fahre morgen nach Galiläa. Auf einen Ausflug. Wieder lächelte sie breit. Der Polizist betrachtete sie und den Jungen lange, drehte sich halb nach hinten, wollte sich wohl mit jemandem beraten. Einer seiner Finger lag locker auf dem runtergekurbelten Fenster neben ihr. Ora schaute ihn an. Wie so ein dünner Finger anhalten, verhindern, ein Schicksal besiegeln kann. Was für zarte Finger die Willkür doch manchmal hat. Der Polizist rief einen der Offiziere, doch der telefonierte gerade. Tief im Innern wusste Ora, dass gerade sie hier Verdacht erregte. Etwas in ihr zeigte dem Polizisten: Hier gab es Schuld. Er wandte sich wieder an sie. Sie dachte, wenn er mich noch einen Moment so anschaut, brech ich zusammen.
    Der Junge wachte auf und blinzelte verstört ins Licht der Stablampe. Ora lächelte noch breiter und umfasste fest seine Schultern. Der Junge bewegte seine Arme wie Ästchen langsam im Lichtstrahl, er wirkte einen Moment wie ein Embryo im Fruchtwasser. Erst dann erkannte er das Gesicht und die Uniform hinter dem Lichtkreis, und seine Augen weiteten sich, Ora spürte, wie eine starke, wilde Bewegung ihn durchfuhr, und drückte ihn noch fester an sich. Der Polizist beugte sich herunter und musterte ihn. Ein bitterer, verwahrloster Gesichtszug lag auf dem Gesicht des Polizisten, ebenso wie auf dem des Jungen. Der Lichtstrahl neigte sich auf den Körper des Jungen, beleuchtete die Worte »Meine Hoffnung auf Frieden: Schimon Peres«. Leicht spöttisch verzog der Polizist den Mund. Plötzlich überkam Ora eine große Müdigkeit, als gäbe sie es jetzt auf, verstehen zu wollen, was hier geschah. Nur Jasdis wie wahnsinnig gegen ihren Arm klopfendes Herz hielt sie aufrecht. Wie kommt es, dass er weiß, dass er jetzt nicht reden darf, fragte sie sich. Er schwieg. Wie das Kücken des Steinhuhns, das erstarrt und sich tarnt, wenn seine Mutter einen Warnruf abgibt.
    Und wie kommt es, dass ich so eine gute Steinhuhnmutter sein kann, dachte sie, ein ganz richtiges Mutterhuhn.
    Ein Auto hinter ihnen hupte, und dahinter noch eines. Der Polizist zog sich an der Nase. Irgendetwas störte ihn, irgendetwas passte nicht zusammen. Er wollte gerade noch eine Frage stellen, doch Sami kamihm mit einer Art Jongleurakt zuvor, indem er herzlich lachte, mit einer Kopfbewegung nach hinten zu Ora wies und zu dem Polizisten sagte, keine Sorge, mein Junge, die ist eine von uns.
    Noch ein kurzes, überdrüssiges Zucken der Lippen, noch eine leichte Bewegung der Lampe, und sie durften weiterfahren. Dreißig oder vierzig Sekunden hatte die ganze Kontrolle gedauert. Ora war schweißgetränkt, der Junge auch.
    Ein Illegaler? fragte sie später, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte und Sami in Richtung Stadtautobahn Tel Aviv beschleunigte. Du beschäftigst Arbeiter aus den Gebieten?
    Alle haben Arbeiter aus den Gebieten, sagte er und biss sich auf die Lippe, die sind am billigsten. Glaubst du, ich hab das Geld, einen Anstreicher aus Abu Gosh zu bezahlen?
    Sie setzten sich entspannter hin. Auch der Junge. Ora wischte ihm und sich den Schweiß ab. Immer wieder schweifte ihr Blick zur Seite: Sie hatte den Eindruck, der Finger des Polizisten liege noch immer auf ihrem Fenster und zeige auf sie. Sie dachte, noch mal würde sie so eine Situation an einer Straßensperre nicht überleben.
    Und was sollte das, dass du ihm gesagt hast, ich sei »eine von uns«? fragte sie später.
    Sami lächelte und leckte sich die Unterlippe. Ora kannte diese Geste: Er genoss seinen Geistesblitz, noch bevor er ihn aussprach. Sie lächelte vor sich hin, massierte sich den Hals, streckte die Zehen. Einen Moment fühlte es

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