Eine Frau für Caracas
Severins zu schützen, waren Worte gewesen, zu denen er sich in einer ähnlichen Situation auch jeder anderen Frau gegenüber verpflichtet gefühlt hätte. Es war durchaus möglich, daß Hilflosigkeit und Furcht Anita in seine Arme getrieben hatten. Aber eigentlich waren diese Fragen jetzt bedeutungslos. Ein Augenblick, der Zeitraum jener Sekunde, in der sie sich zu ihm umdrehte und ihm die Hände auf die Arme legte, hatte genügt, um ihn zu entflammen. Den Gedanken, ob sie die Frau sei, die er gesucht und die er sich gewünscht hatte, schob er beiseite, er war ein wenig lästig, und Werner konnte und wollte diese Frage auch nicht beantworten.
Als er eine Viertelstunde später aus seinem Zimmer trat, hörte er das Summen eines Staubsaugers und sah Christine, die den Teppich in der Diele säuberte.
»Guten Morgen, Christine!«
»Guten Morgen...« Es klang kühl, und sie schaute auch nicht auf, als er sich ihr näherte.
»Wo finde ich meine Schwester?«
Christine stellte den Staubsauger für einen Moment ab und kniete nieder, um die Fransen des Teppichs mit einer Nylonbürste auszukämmen.
»Ich habe das Frühstück im Zimmer von Frau Dyrenhoff serviert«, sagte sie und setzte in dem Augenblick, in dem er den kurzen Gang betrat, an dessen Ende Gerdas Zimmer lag, leise hinzu: »Frau Dyrenhoff fragte mich, ob ich gehört hätte, wann Sie heimgekommen seien...«
Er hob die Augenbrauen und sah sie an: »Na, und was haben Sie ihr geantwortet, Christinchen?«
Die Teppichfransen schienen so verknotet zu sein, als hätten Kobolde über Nacht Zöpfe hineingeflochten.
»Ich sagte, ich hätte nicht auf die Uhr gesehen, aber es wäre schätzungsweise zwei gewesen.«
Er blinzelte zu ihr wie zu einem alten Kumpan herunter: »Schönen Dank, Christine! — Was mögen Sie lieber: Likörbohnen oder Weinbrandkirschen?«
»Danke, Herr Gisevius«, sagte sie eisig, »ich bin nicht für Süßigkeiten!«
» Nanana !« murmelte er betroffen, aber er kam nicht dazu, sich nach dem Grund für die kühle Absage zu erkundigen, denn Gerda öffnete die Tür und winkte ihn ins Zimmer.
»Komm nur herein, Werner! Der Kaffee ist noch heiß...« Sie bot ihm mit einer Handbewegung die Wahl zwischen einem kleinen Sessel und einem gepolsterten Hocker, auf dem er sich niederließ. Gerda trug einen Morgenrock mit chinesischen Stickereien, ein hübsches Gewand, dessen Seide jedoch bereits ein wenig fadenscheinig wurde. Sie war keine Frühaufsteherin. Am Morgen versorgte Christine Dyrenhoff und die Kinder. Der Frühstückstisch war appetitlich gedeckt. Für jeden ein weiches Ei, eine Platte mit Aufschnitt und abgekochtem Schinken, Butter, Honig, Pumpernickel und knusprige Brötchen.
»Christine verwöhnt mich maßlos. Ein Glück, daß ich keine Anlage zum Dickwerden habe. Jedenfalls halte ich seit fünf Jahren mein Gewicht.«
»Ja«, murmelte er, »Christine ist wirklich eine Perle. Der Mann, der sie einmal heiraten wird, ist zu beneiden…«
»Male den Teufel nicht an die Wand!« rief Gerda beschwörend. »Alle meine Mädchen sind mir weggeheiratet worden. Ich zittere jeden Tag darum, daß da ein Kerl ankommen und Christine den Kopf verdrehen könnte.«
»Hat sie denn keinen?«
»Eine Zeitlang kam ein junger Mann, der sie manchmal mit seinem Wagen abholte. Aber das scheint Gott sei Dank vorbei zu sein!«
»Deine Sorgen...«, grinste Werner.
»Und ob das Sorgen sind! — Möchtest du ein Glas Orangensaft haben?«
»Danke, nein, ich möchte einen Kaffee nehmen.« Er reichte ihr seine Tasse hinüber und ließ sich von ihr zwei Brötchen zurechtmachen, mit Schinken und mit Salami.
»Du bist ziemlich spät heimgekommen, Werner...« In Gerdas Ton lag natürlich nicht der geringste Vorwurf. (Bitte, du bist hier daheim und kannst tun und lassen, was du willst. Und du bist mir über dein Gehen und Kommen selbstverständlich keine Rechenschaft schuldig.)
»Ich habe nicht nach der Uhr geschaut«, murmelte er vorsichtig, »es kann zwei oder ein wenig darüber gewesen sein. Ich hielt unterwegs noch an einer Bar...«
»War Anita Eyssing mit von der Partie?«
»Nein, wie kommst du darauf? Es war auf dem Rückweg...«
»Hast du mit ihr über Severins Entlassung gesprochen?«
»Selbstverständlich! Deshalb habe ich sie ja schließlich heimgefahren.«
»Und wie hat sie die Nachricht aufgenommen?«
»Gefaßt — recht gefaßt...«
»Mein Gott, bist du heute aber gesprächig!«
»Ich kann dir wirklich nicht mehr erzählen. Natürlich war sie im
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