Eine Frau in Berlin
keinen Menschen, der mir dorthinauf Wasser und Nahrung brächte. Als ich neun Jahre alt war und auf Ferienbesuch im Haus der Großeltern, hab ich mich eines Sonntagnachmittags mit meiner Kusine Klara auf dem Dachboden versteckt. Wir krochen in einen Winkel unter den sonnenwarmen Strohpuppen des Dachgebälks und tuschelten über das Kinderkriegen. Klara, jünger als ich, doch wissender, flüsterte von großen Messern, mit denen die Frauen aufgeschnitten würden, damit die Kinder ans Licht kämen. Ich spüre noch, wie es mir vor Grausen den Hals zuzog. Bis unten an der Treppe Großmutters behäbige Stimme uns zum Vespern rief. Erlöst stolperte ich treppab und atmete auf, als ich die Großmutter in ihrer Satinschürze sah, unaufgeschnitten, breit und rund, die Nickelbrille vorn auf der Nase. Es roch nach Kaffee und Apfelkuchen, und bestimmt war der Kuchen mit Puderzucker bestreut, obwohl ein Pfund davon damals mehrere Millionen Papiermark kostete. Überm Kauen vergaß ich Klaras Messer und meine Angst. Aber ich meine heute, daß die Kinder recht haben in ihrer Angst vor dem Geschlechtlichen. Es sind viele scharfe Messer darin.
Die Russen um die Pumpe herum musterten uns Wasserholerinnen immer nur flüchtig. Die haben schon kapiert, daß aus den Häusern in erster Linie die Krummen und Alten zur Pumpe geschickt werden. Ich runzle dort auch meine Stirn, ziehe die Mundwinkel abwärts, kneife die Augen zusammen, um recht alt und mies zu erscheinen.
Anfangs, als ich noch nicht so bekannt war wie ein bunter Hund, haben unsere russischen Gäste mich oft nach meinem Alter gefragt. Sagte ich dann, ich sei bereits vor einiger Zeit dreißig geworden, so gab es ein Gegrinse und die Antwort: »Hehe, die macht sich älter, die Schlaue.« Meinem Ausweis, den ich nun zückte, mußten sie freilich glauben. Die kennen sich mit uns nicht aus, sie sind ihre viel gebärenden, früh verbrauchten Russinnen gewöhnt, lesen uns die Jahre nicht vom Körper ab – so elend und kümmerlich die meisten von uns auch jetzt im Vergleich zu Friedenszeiten wirken mögen.
Ein rotbackiger Russe spazierte, auf einem Akkordeon spielend, an unserer Reihe entlang. Er rief uns zu: »Gitler kaputt, Goebbels kaputt. Stalin gutt.« Er lacht, kräht einen Mutterfluch, schlägt einem Kameraden auf die Schulter und ruft auf russisch, obwohl man das in der Pumpenschlange gar nicht versteht: »Den seht euch an! Das ist ein russischer Soldat. Der ist von Moskau nach Berlin gezogen!« Sie platzen aus allen Knopflöchern vor Siegerstolz. Offenbar staunen sie selber darüber, daß sie es so weit gebracht haben. Wir schlucken alles, stehen und warten.
Ich kam heim mit zwei Eimern voll Wasser. Drinnen in der Wohnung neuer Wirbel. Zwei Soldaten, Fremde, rennen durch unsere Zimmer, suchen nach einer Nähmaschine. Ich führe unsere »Singer« in der Küche vor. Seit Petka, der bürstenköpfige Romeo, damit Fangball gespielt hat, sieht sie ziemlich verbogen aus. Wozu brauchen die beiden denn eine Nähmaschine?
Es stellt sich heraus, daß sie eine Sendung nach Rußland in leinene Hüllen eingenäht haben wollen. Was natürlich von Hand zu bewerkstelligen wäre. Mit viel Beredsamkeit, deren Hauptfigur die Wiederholung war, überzeugte ich die Knaben davon, daß für ihre Wünsche die Technik noch nicht weit genug fortgeschritten, daß hier Großmutters schlichte Handarbeit am Platze sei.
Schließlich nicken sie mit ihren runden Köpfen, willigen ein. Als Lohn winkt ein ganzes Brot. Die Witwe überlegt und beschließt, den fürstlichen Auftrag der Buchhändlerin zuzuschanzen, die nähgewandt und brotbedürftig ist. Sie eilt, die Frau aus ihrer dreifach gesicherten Wohnung herauszuklopfen.
Nach einer Weile kommt sie wirklich herein, mißtrauisch, zögernd, doch sogleich gierig nach dem Brote schielend. Seit Tagen, so sagt sie, hat sie keinen Bissen Brot mehr gegessen. Sie lebt mit ihrem Mann von Graupen und Bohnen. Nun stellt sie sich ans Küchenfenster und stichelt sorgsam die weißen Leinenlappen um das Konvolut. Der Inhalt bleibt uns verborgen. Es faßt sich weich an, ich vermute, daß Kleidungsstücke darin sind.
Ich versuche mir vorzustellen, wie den Russen angesichts all des schutzlos und herrenlos herumliegenden Gutes zumute sein muß. In jedem Haus gibt es verlassene Wohnungen, die ihnen völlig preisgegeben sind. Jeder Keller mit allem darin verstauten Kram steht ihnen offen. Nichts in dieser Stadt, was ihnen, wenn sie wollen, nicht gehörte. Es ist einfach
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