Eine Frau in Berlin
zuviel. Sie übersehen die Fülle nicht mehr, greifen lässig nach blinkenden Dingen, verlieren oder verschenken sie wieder, schleppen manches Stück ab, das sie nachher als zu lästig wieder von sich werfen. Zum ersten Mal sah ich hier Knaben, die ein solch ordentliches Postpaket aus ihrer Beute formten. Gewöhnlich sind sie ungeschickt im Verwerten, haben keine Ahnung von Qualität und Preis, schnappen sich das Erstbeste, das ihnen in die Augen sticht. Woher soll es auch kommen? Die haben ihr Leben lang Zugeteiltes auf ihrem Körper getragen, wissen nicht zu sichten und zu wählen, ahnen nicht, was gut und teuer ist. Wenn sie zum Beispiel Bettzeug klauen, so nur, um sich gleich draufzulegen. Ob Eiderdaunen oder Reißwolle, sie sehen keinen Unterschied. Und über jeder anderen Plünderbeute steht ihnen der Schnaps.
Die Buchhändlerin teilt uns, während sie an der Leinwand stichelt, von ihren Neuigkeiten aus. Ja, Stinchen, die Achtzehnjährige, wird von ihrer Mutter immer noch auf dem Hängeboden gehalten, bleibt neuerdings auch tagsüber dort, seit einmal mit den Wasserholern sich zwei Russen in die Wohnung gedrängt, mit Revolvern herumgefuchtelt und ein Loch in das Linoleum des Fußbodens geschossen haben. Sie sieht käsig aus, die Kleine. Kein Wunder. Dafür ist sie noch heil. Die Buchhändlerin weiß von neuen Hausbewohnern zu berichten, zwei jungen Schwestern, die eine ist Kriegerwitwe, hat einen dreijährigen Jungen. Sie sind in eine der leerstehenden Wohnungen eingerückt und feiern drinnen mit Soldaten, mal am Tag, mal in der Nacht; es soll sehr lustig bei ihnen zugehen. Weiter erfahren wir, daß eine Frau im Hause gegenüber aus dem dritten Stock auf die Straße gesprungen ist, als Iwans hinter ihr her waren. Auf dem Rasenplatz vor dem Kino ist sie begraben worden. Es sollen noch mehr Menschen dort liegen. Ich weiß es nicht, mein Pumpenweg führt in anderer Richtung. Und sonst macht man ja jetzt draußen keine Wege.
So stichelt die Buchhändlerin und murmelt, was sie weiß. Die Fama. Bei dem Wort hab ich mir stets eine verhüllte, murmelnde Frauengestalt vorgestellt. Das Gerücht. Wir nähren uns davon. In Urzeiten haben die Menschen alle Meldungen und Begebenheiten von dieser Fama bezogen. Man kann sich das Weltbild früher Kulturen gar nicht nebelhaft und schwankend genug vorstellen. Spukhaft, ein Alpdruck, ein Gewoge von gemurmelten Greueln und Ängsten, von Böswilligkeiten und Götterneid. Manchmal in diesen Tagen hab ich das Gefühl, daß überhaupt nichts mehr stimmt – daß Adolf vielleicht längst per U-Boot bei Franco gelandet ist und auf einem Schloß in Spanien sitzt und für Truman Pläne entwirft, wie der die Russen heimschicken könnte. Zutiefst jedoch immer das Gefühl unserer Niederlage, unseres Preisgegebenseins.
Die beiden Russen kreuzten wieder auf, nahmen zufrieden den zugenähten Packen in Empfang, gaben der Frau das frische Brot. Ich unterhielt mich mit den beiden. Es stellte sich heraus, daß beide keine Russen im Sinne des Volkstums sind: Volksdeutscher aus dem Kubangebiet der eine, der andere ein Pole aus Lemberg. Der Volksdeutsche heißt Adams, seine Vorfahren sind vor 200 Jahren aus der Pfalz ausgewandert. Er bringt einige deutsche Worte hervor, in Pfälzer Mundart, zum Beispiel: »Es hot gebrennt.« Der polnische Paketknabe ist bildhübsch, schwarzhaarig und blauäugig, lebhaft und flink. Im Nu zerklopft er uns eine Kiste zu Kleinholz. Er wechselt mit der Witwe, die als Kind bei Verwandten auf einem ostpreußischen Gut etwas Schnitterpolnisch aufgeschnappt hat, polnische Phrasen. Mir bietet er an, daß er mit mir Wasser holen gehen wolle.
Ich nahm an, wenn auch zögernd. Beim ersten Wasserholen hatte ich unten neben der Haustür einen Anschlag in Deutsch und Russisch entdeckt, der besagte, daß die Russen von sofort an keine deutschen Wohnungen mehr betreten dürften und sich nicht mit deutschen Zivilisten abzugeben hätten.
Wir gehen los, mich freut's, auf diese Art mindestens eine Ansteh-Stunde zu sparen: denn wenn ein Russe für mich pumpt, habe ich den Vortritt. Draußen ruft gleich ein Offizier hinter meinem Polen her: »He, du! Was gehst du mit der Deutschen!« Der Pole blinzelt mir zu, bleibt zurück und trifft mich wieder an der Pumpe, wo er sich vorweg bedient. Währenddes treffen mich aus der Schlange Blicke, in denen ich Bitterkeit und Verachtung lese. Aber keiner spricht.
Der Pole ist jähzornig. Wegen nichts fängt er unterwegs mit einem Soldaten Streit an,
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