Eine Frau in Berlin
auf die Straße wagen. Wir berichten von dem Toten, die Witwe ahmt seine Mundstellung nach. »Schlaganfall«, murmelt der Exsoldat. Sollen wir zusammen hingehen? »Ach was«, sagt Gardinen-Schmidt, »nachher fehlt irgendwas in seinen Taschen, dann sollen wir es gewesen sein.« Und im Nu ist auch für uns der Tote vergessen über der Tatsache, die Gardinen-Schmidt nun verkündet: »Alle Russen sind weg.« Sie haben unser Haus geräumt, sind aus dem ganzen Block abgezogen – während wir das Schmutzwasser holten, sind sie auf Lastwagen abgerollt. Gardinen-Schmidt erzählt, daß sie sich ihre Lastwagen gut gepolstert hätten, mit Matratzenteilen und Sofakissen aus den verlassenen Wohnungen.
Weg! Alle weg! Wir können es kaum fassen, blicken unwillkürlich straßenaufwärts, als müßten von dorther Lastwagen mit neuen Truppen anrollen. Aber nichts, nur Stille, seltsame Stille. Keine Gäule mehr, kein Pferdewiehern, kein Hahn. Bloß Pferdemist, und den fegt Portiers Jüngste soeben aus dem Hausflur. Ich sehe mir die Sechzehnjährige an, die einzige bisher, von der ich weiß, daß sie ihre Jungfernschaft an Russen verlor. Sie hat dasselbe dumme, selbstzufriedene Gesicht wie immer. Ich versuche mir vorzustellen, wie es wäre, wenn mir dies Erleben zum ersten Mal auf solche Art zuteil geworden wäre. Ich muß den Gedanken abbremsen, sowas ist nicht vorstellbar. Eines ist klar: Wäre an dem Mädel irgendwann in Friedenszeiten durch einen herumstreunenden Kerl die Notzucht verübt worden, wäre hinterher das übliche Friedensbrimborium von Anzeige, Protokoll, Vernehmung, ja von Verhaftung und Gegenüberstellung, Zeitungsbericht und Nachbarngetue gewesen – das Mädel hätte anders reagiert, hätte einen anderen Schock davongetragen. Hier aber handelt es sich um ein Kollektiv-Erlebnis, vorausgewußt, viele Male vorausbefürchtet – um etwas, das den Frauen links und rechts und nebenan zustieß, das gewissermaßen dazugehörte. Diese kollektive Massenform der Vergewaltigung wird auch kollektiv überwunden werden. Jede hilft jeder, indem sie darüber spricht, sich Luft macht, der anderen Gelegenheit gibt, sich Luft zu machen, das Erlittene auszuspeien. Was natürlich nicht ausschließt, das feinere Organismen als diese abgebrühte Berliner Göre daran zerbrechen oder doch auf Lebenszeit einen Knacks davontragen.
Zum ersten Mal seit dem 27. April wurde am Abend die Haustür wieder verschlossen. Damit beginnt, falls nicht wieder neue Truppen ins Haus gelegt werden, ein neuer Lebensabschnitt für uns alle.
Dennoch rief es gegen 21 Uhr draußen nach mir. Mit seiner gequetschten Stimme wiederholte der Usbek viele Male meinen Namen (das heißt die russifizierte Form des Namens, wie sie mir der Major verliehen hat). Als ich hinausschaute, schimpfte und drohte der Usbek zu mir hinauf und wies ganz empört auf die verschlossene Haustür. Tja, mein Dicker, das hilft dir gar nichts. Ich ließ ihn ein, der Major folgte ihm auf dem Fuße, er hinkte beträchtlich. Das Radeln ist ihm schlecht bekommen. Wieder machte die Witwe ihm Kompressen. Das Knie sah gefährlich aus, dick geschwollen, rot. Mir unbegreiflich, wie einer damit radeln, damit tanzen und Treppen steigen kann. Es sind Roßnaturen, da können wir nicht mit.
Schlechte Nacht mit dem fiebernden Mann. Seine Hände waren heiß, die Augen trüb, er fand keinen rechten Schlaf, ließ auch mich nicht schlafen. Endlich graute der Morgen.
Ich führte den Major und Burschen hinunter, schloß ihnen die Haustür auf, nun wieder unsere Haustür. Hinterher eklige Arbeit: Der Usbek hat eine Art Ruhr, hat Klo und Wand und Fliesen bespritzt. Ich wischte mit etlichen herumliegenden Heften einer NS-Fachzeitschrift für Apotheker auf, machte sauber, so gut ich konnte, verplemperte fast das ganze, gestern abend vom Teich herangeschleppte Spülwasser. Wenn das Herr Pauli wüßte, der unentwegte Manikürer und Pedikürer, der so pimplig ist!
Weiter, nun der Dienstag. Gegen neun Uhr morgens an der Vordertür der Hausdactylus, den wir nach wie vor benutzen, obwohl kein Russe mehr im Haus ist. Es war die Grindige, Frau Wendt, sie hat das Gerücht vernommen, daß Frieden sei. In Süd und Nord soll der letzte, ungeordnete deutsche Widerstand zerschlagen sein. Wir haben kapituliert.
Die Witwe und ich atmen leichter. Gut, daß es so schnell ging. Herr Pauli flucht jetzt noch über den Volkssturm, die sinnlos Getöteten der letzten Stunde, die Alten und Müden, die hilflos Verbluteten, für die es nicht
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