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Eine Frau in Berlin

Eine Frau in Berlin

Titel: Eine Frau in Berlin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anonyma
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mal einen Lappen gab, die Wunden zu verbinden. Zersplitterte Knochen, die aus Zivilhosen stachen; schneebleiche Bündel auf Tragen, aus denen es eintönig tropfte; die lauen, glitschigen Blutpfützen überall in den Gängen... Pauli hat bestimmt Schweres durchgemacht. Gerade deshalb halte ich seine Neuralgie, die ihn seit über einer Woche ans Bett fesselt, zur Hälfte für eine Seelenkrankheit, für eine Zuflucht und Retirade. Manche Männer im Haus haben solche Zuflucht. So der Buchhändler seine Parteizugehörigkeit, so der Deserteur seine Desertion, so etliche andere Figuren ihre Nazivergangenheit, für die sie Deportation oder sonst etwas befürchten und hinter der sie sich verschanzen, wenn es Wasser zu holen oder sonst eine Tat zu wagen gilt. Die Frauen tun auch ihr Bestes, das Mannsvolk zu verstecken und es vor dem bösen Feind zu schützen. Denn was können sie uns schon tun? Sie haben uns ja alles getan.
    Also spannen wir uns vor die Karre. Das ist logisch. Trotzdem bleibt ein Unbehagen. Ich muß jetzt oft daran denken, was für ein Trara ich um durchreisende Urlauber gemacht habe, welche Verwöhnung, wieviel Respekt. Dabei kamen sie zum Teil aus Paris oder Oslo, Städten also, die frontferner waren als das ständig bombardierte Berlin. Oder sie kamen gar aus tiefstem Frieden, aus Prag oder Luxemburg. Selbst wenn sie von der Front kamen, wirkten sie bis gegen 1943 so proper und gutgenährt, wie es heute nur wenige Menschen sind. Und sie erzählten gern Geschichten, in denen sie selbst eine gute Figur machten. Wir dagegen werden fein den Mund halten müssen, werden so tun müssen, als habe es uns, gerade uns ausgespart. Sonst mag uns am Ende kein Mann mehr anrühren. Hätte man wenigstens richtige Seife! Ich habe oft solche Gier danach, meine Haut gründlich abzuschrubben, glaube fest, daß ich mich hernach auch seelisch sauberer fühlen würde.
    Am Nachmittag gutes Gespräch, ich will es möglichst wörtlich notieren, muß immer noch darüber nachdenken. Unvermutet tauchte der bucklige Doktor aus der Limonadenfabrik wieder auf, ich hatte ihn beinahe vergessen, obwohl ich früher öfters einmal ein paar Worte mit ihm im Luftschutzkeller gewechselt habe. Er hat bis zuletzt in einem unentdeckten Nachbarkeller die Zeit überstanden. Dorthin hat kein Russe gefunden. Freilich bekam der Doktor dafür die brühwarmen Berichte genotzüchtigter Wasserholerinnen ab. Eine, sehr kurzsichtig, hat dabei ihre Brille eingebüßt und tappt nun völlig hilflos herum.
    Es stellt sich heraus, daß der bucklige Doktor ein »Genosse« ist. Das heißt, er hat bis 1933 der Kommunistischen Partei angehört, hat sogar einmal drei Wochen mit einer Intourist-Gruppe die Sowjetunion bereist und versteht ein paar Worte Russisch. Tatsachen, die er mir im Keller ebensowenig anvertraut hat wie ich ihm meine Reisen und Sprachkenntnisse. Derartige plumpe Vertraulichkeiten hat uns das Dritte Reich abgewöhnt. Trotzdem muß ich mich wundern. »Wieso sind Sie denn nicht vorgetreten und haben sich den Russen als ein Sympathisierender zu erkennen gegeben?«
    Er sieht mich verlegen an. »Ich hätte es getan«, meint er dann. »Wollte nur die ersten wilden Tage vorübergehen lassen.« Und er fügt hinzu: »Ich werde mich die nächsten Tage auf dem Rathaus melden. Sobald es wieder Behörden gibt, werde ich mich zur Verfügung stellen.«
    (Was ich glaube, ihm aber nicht sage, ist, daß er sich wegen seines Buckels nicht vorgewagt hat. Bei so viel überschäumender Manneswut hätte er seinen Defekt, der ihn in den Augen dieser starken Barbaren zu einem Halbmann, einem kümmerlichen Etwas gemacht hätte, doppelt bitter empfunden.) Sein Kopf sitzt tief zwischen den Schultern, er bewegt sich nur mühsam. Doch seine Augen sind blank und klug, seine Rede ist flüssig.
    »Sind Sie nun ernüchtert?« frage ich ihn. »Sind Sie von Ihren Genossen enttäuscht?«
    »Kaum«, meint er. Und: »Wir wollen das Geschehene nicht allzu klein und persönlich auffassen. Triebe und Instinkte haben sich ausgetobt. Auch Rachsucht war im Spiel; denn schließlich haben wir ihnen einiges angetan drüben in ihrem Land. Umkehr und Selbstbesinnung müssen folgen, bei uns wie auch bei den anderen. Eine Welt von gestern, das ist unser altes Abendland. Es gebärt nun eine neue Welt, die von morgen, und das geschieht unter Schmerzen. Das Slawentum tritt jung und unverbraucht ins Licht der Weltgeschichte. Die Länder Europas werden ihre Grenzen sprengen und zu größeren Räumen

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