Eine Frau mit Geheimnis
war unverkennbar. Dominic musterte Alexandrow, der so jung und verletzlich aussah. In London würde ihm sein Säbel, auf diversen Schlachtfeldern zweifellos erprobt, nichts nützen.
„He, warum rempeln Sie mich an?“
Als Dominic die heisere Stimme hörte, wandte er sich zur Seite und erblickte einen großen, kräftigen, offensichtlich betrunkenen Mann, der den Russen wütend anstarrte. Kampflustig hob der Kerl eine Faust, und Alexandrow umfasste den Griff seines Säbels.
„Nicht!“, warnte Dominic und stellte sich hastig zwischen die beiden Männer.
Natürlich könnte er den Trunkenbold mühelos niederschlagen. Aber damit würde er womöglich mehrere Leute zu einer Prügelei animieren. Und ein Aufruhr, an dem ein Gefolgsmann des Zaren beteiligt wäre, würde zweifellos Prinnys Missfallen erregen.
„Das ist ein Offizier des russischen Herrschers!“ Um sich verständlich zu machen, schrie Dominic beinahe. „Und wir jubeln den Russen doch zu, nicht wahr?“
Verwirrt ließ der Betrunkene seine Faust sinken. Ringsum murrte die Menge, ein paar Männer versuchten ihn wegzuzerren.
„Zar Alexander lebe hoch!“, rief Dominic.
Zu seiner Erleichterung wiederholten mehrere Leute die Worte, und sogar der Trunkenbold stimmte grinsend ein.
Als Dominic mit Alexandrow weiterging, mahnte er: „Hoffentlich verstehen Sie jetzt, wie gefährlich es wäre, wenn Sie sich allein auf die Londoner Straßen wagen würden. Hätten Sie Ihren Säbel gezückt, wären Sie ganz sicher attackiert und verletzt worden. Die Londoner sind nicht allzu gut auf Ausländer zu sprechen, nicht einmal auf solche, die ihnen geholfen haben, Bonaparte zu besiegen.“
„Geholfen!“, stieß der Junge hervor, hochrot vor Zorn. „Da untertreiben Sie ganz gewaltig, Sir! Wenn man die Verluste des russischen Heeres mit Ihren eigenen vergleicht …“
Dominic klopfte ihm beschwichtigend auf die Schulter. „Natürlich möchte ich die Verdienste der russischen Soldaten nicht schmälern, und ich will Sie nur vor Schwierigkeiten bewahren.“
Da errötete der Russe noch heftiger, aber sein Groll schien zu verfliegen.
Sobald Dominic seine Hand entfernte, nahmen Alexandrows Wangen wieder eine normale Farbe an, und er lächelte halbherzig. Fühlte er sich herablassend behandelt? War das der Grund seiner Entrüstung gewesen?
Neuer Jubel verhinderte Dominics Versuch einer Erklärung. In der Ferne sah er den Zaren wieder auf dem Balkon des Pulteney Hotels stehen, und die Menschenmenge schrie begeistert.
„Also, ich glaube, das sieht nicht nach einer Abneigung gegen Ausländer aus, Calder.“
„Da haben Sie recht. Aber bedenken Sie bitte, Alexej Iwanowitsch, der Londoner Mob kann furchtbar wankelmütig sein.“
„Gewiss, ich verstehe Ihre Warnung. Ich gebe es zu, ich habe zu schnell nach meiner Waffe gegriffen. Und … verzeihen Sie meinen überflüssigen Wutausbruch.“
„Schon gut.“ Dominic lächelte erleichtert. Aus unerfindlichen Gründen fühlte er sich immer stärker zu dem sonderbaren, temperamentvollen Offizier hingezogen, und er wollte ihn keinesfalls kränken, nicht einmal unabsichtlich. „Schauen Sie, Ihr Zar verlässt den Balkon. Offenbar werden ihm seine Bewunderer keine Ruhe gönnen. Wird er in Russland auch so stürmisch gefeiert?“
„Eher nein … Für sein Volk ist er das ‚Väterchen Zar‘, und so verbindet ihn eine andere Beziehung mit den Russen.“
Erstaunt runzelte Dominic die Stirn. Ein Vater seines Volkes? Er versuchte sich den Prinzregenten in einer solchen Rolle vorzustellen. Bei diesem absurden Gedanken bekämpfte er vergeblich seinen Lachreiz, den Alexandrow in die falsche Kehle bekam. Das verriet die Miene des Burschen nur zu deutlich. „Pardon, Alexej Iwanowitsch, ich verglich Ihren Herrscher mit meinem. Den Prinzregenten kann man wirklich nicht als Vater seines Volkes bezeichnen.“
„Sie sind ziemlich respektlos, Sir.“
„Nun, wir Engländer sind der Krone treu ergeben, aber wir erkennen auch die Fehler und Schwächen unserer Monarchen. Und unsere Regenten üben keine absolute Macht aus. In Skandalblättern und Karikaturen wird Prinny gnadenlos verspottet – seine Mätressen, seine Extravaganzen …“
Alexandrow schüttelte verwundert den Kopf. Offenbar fiel es ihm schwer, die Haltung der Engländer zu verstehen, die sich so grundlegend von der russischen unterschied. Aber er bemühte sich darum, und das war nach Dominics Erfahrung ungewöhnlich. Bemerkenswert für einen so jungen Mann …
„Keine
Weitere Kostenlose Bücher