Eine Frau mit Geheimnis
schüttelte sie den Kopf. „Nein, danke, Calder. Der Wein schmeckt wirklich ausgezeichnet. Aber ich trinke niemals mehr als ein Glas.“
„Nicht einmal das haben Sie geleert, Capitaine“, betonte Leo. „Beinahe gewinne ich den Eindruck, Sie mögen keinen Wein.“
„Nun, ich …“
„Bemühen Sie sich nicht um eine Antwort“, wurde sie von Calder unterbrochen. „Unglücklicherweise macht es meinem Bruder großen Spaß, alle Leute zu provozieren, sogar unsere Gäste. Seit Jahren will ich ihm das abgewöhnen.“ Er seufzte theatralisch. „Leider gelingt es mir nicht.“
„Also, das stimmt nicht ganz“, wandte Leo ein. „Meine Gäste provoziere ich niemals. Nur deine.“
Verwundert schaute Alex von einem zum anderen. Der Duke versuchte erfolglos, seinen Lachreiz zu bezwingen, und Lord Leo trug eine engelsgleiche Unschuldsmiene zur Schau. Ging es so zwischen Brüdern zu? Ein gutmütiges, fröhliches Geplänkel zweier Männer, die sich sehr nahe standen? Beneidenswert, dachte sie. Da sie keine Schwestern und nur einen viel jüngeren Halbbruder hatte, kannte sie eine so innige verwandtschaftliche Beziehung nicht. Zudem war von ihr erwartet worden, ihre Zeit mit der Perfektion häuslicher Fähigkeiten zu verbringen. Selbst wenn sie ältere Geschwister hätte – die Stiefmutter hätte ihr niemals erlaubt, sich mit ihnen zu amüsieren. In erster Linie musste sie eine gehorsame Tochter sein – und später die gehorsame Ehefrau des Mannes, den ihre Eltern auswählen würden. Immer hatte sie nur Pflichten erfüllen müssen. In ihrer Kindheit waren Heiterkeit und Gelächter verpönt gewesen.
Der Butler betrat das Speisezimmer und begann den Tisch abzuräumen. „Gerade ist Lord Jack angekommen, Euer Gnaden.“
„Seltsam …“, meinte der Duke gedehnt. „Der Wein ist hier – und Jack nicht. Vielleicht haben Sie eine Geistererscheinung gesehen, Withering.“
Alex senkte den Kopf und presste die Lippen zusammen, um ihre Belustigung zu verbergen. Natürlich durfte der Duke nicht herausfinden, dass sie die englische Sprache beherrschte.
„Nachdem ich Lord Jack über die Anwesenheit eines ausländischen Gastes informiert hatte, zog er sich in die Bibliothek zurück“, verkündete der Butler.
„Und zu meinem Madeira“, ergänzte der Duke lächelnd. „Also doch keine Geistererscheinung. Bitte sagen Sie meinem Bruder, wir werden uns bald zu ihm gesellen.“
Der Butler verneigte sich und verließ den Raum.
Auf Französisch erklärte Calder, soeben sei sein jüngerer Bruder eingetroffen. „Seien Sie gewarnt, Alexej Iwanowitsch, Jack ist ein richtiger Schlingel. Noch schlimmer als Leo.“
„Besten Dank, Dominic“, murmelte Lord Leo.
Calders Mundwinkel zuckten. Aber er fuhr unbeirrt fort: „Wenn Sie Jack auch nur eine kleine Chance geben, Alexandrow, wird er Sie unbarmherzig hinters Licht führen. Er ist etwa in Ihrem Alter. Leo und mich hält er für steinalt und rettungslos verknöchert. Sicher wird er versuchen, Sie in irgendwelche Spielhöllen zu locken. Und nur der Himmel mag wissen, was ihm sonst noch einfällt.“
Inständig hoffte Alex, sie würde nicht schon wieder erröten. „Danke für die Warnung, Sir, aber ich spiele nicht.“ Die Verblüffung der beiden Brüder war offensichtlich, und sie entschloss sich zu ihrer üblichen Lüge. „Leider kann ich mir das nicht leisten. Meine Familie gehört zwar der Aristokratie an, aber wir sind nicht reich. Und ich werde meine bescheidenen finanziellen Mittel nicht am Spieltisch riskieren. Sollte Sie das enttäuschen, bitte ich um Entschuldigung.“
„Dafür besteht kein Grund“, entgegnete Calder. „Der Prinzregent hat mich ausdrücklich beauftragt, gewissenhaft zu verhindern, dass die russischen Offiziere in London um zu hohe Einsätze spielen und in Schwierigkeiten geraten.“
„Und wie willst du das machen?“, fragte Lord Leo.
„Keine Ahnung“, gestand Calder lächelnd. „Vielleicht glaubt Prinny, ich hätte einen Zauberstab.“
Grinsend verdrehte Lord Leo die Augen.
Alex senkte irritiert den Kopf. War es gestattet, den Regenten auf diese Weise zu kritisieren? Kein russischer Offizier würde es wagen, so etwas über den Zar zu sagen. Niemals.
„Verzeihen Sie mir, Alexandrow“, bat Dominic, „ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen. So wie alle Monarchen hält der Prinzregent es für sein gutes Recht, Befehle zu erteilen. Wie die ausgeführt werden sollen, müssen die anderen herausfinden. Für solche Probleme sind die
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