Eine Frau mit Geheimnis
Obwohl das seine Mission erschwerte, freute Dominic sich darüber, weil er die Gesellschaft des jungen Russen mehr und mehr schätzte.
Eines späten Abends, nach einem weiteren, viel zu langen königlichen Bankett, beklagte er sich bei Leo: „Der Zar verfügt über unerschöpfliche Energien, und anscheinend will er alle interessanten Stätten in London besuchen. Aber bei diesen Besichtigungstouren glänzt Major Zass meistens durch Abwesenheit – Alexandrow übrigens auch, und das gibt mir zu denken. Glaubst du, sie paktieren mit den Preußen?“
„Wenn das zutrifft“, entgegnete Leo nachdenklich, „wird es die geplante Heirat unterminieren. Weißt du, ob einer der jungen preußischen Prinzen unserer Princess Charlotte seine Aufwartung gemacht hat? Das sind ziemlich imposante junge Männer. Und darin liegt eine gewisse Gefahr, denn sie mag den Prinzen von Oranien kein bisschen.“
„Da hast du recht, daran hätte ich denken müssen.“
„Du bist müde, Dominic. Und du kannst nicht an alles denken.“
Nur widerstrebend stimmte Dominic zu. Dann beschloss er, seinen Bruder um einen Rat zu bitten, in einer Angelegenheit, die ihm schon seit Tagen Sorgen bereitete. „Weißt du, Leo – Alexandrow geht mir nicht aus dem Sinn. Wirklich ein bemerkenswerter junger Mann. Und ich möchte …“ Unsicher unterbrach er sich. War das ein kluger Entschluss? Jedenfalls eine sehr ungewöhnliche Absicht. „Also, ich würde den Zaren gern bitten, er möge Alexandrow gestatten, etwas länger in England zu bleiben, ein oder zwei Monate. Immerhin sitzt Bonaparte auf Elba fest, kann keinen Schaden mehr anrichten, und in Europa herrscht endlich Frieden. Deshalb finde ich, Seine Majestät sollte Alexandrow einen Urlaub gönnen. Ich vermute nämlich, der Junge hatte schon sehr lange keinen, trotz seines mehrjährigen Kriegsdienstes und ausgezeichneter Leistungen. Was hältst du davon?“
„Ja, warum nicht? Wir würden seine Gesellschaft genießen. Vor allem Jack, weil Alexandrow sein Altersgenosse ist.“
„Gewiss. Allerdings muss ich Jack ermahnen, sich anständig zu benehmen. Auf keinen Fall darf er Alexandrow in eine seiner Spielhöllen schleppen.“
„Dieses Risiko brauchst du nicht zu befürchten. Alexandrow spielt nicht. Erinnerst du dich? Und so, wie ich Jack kenne, wird er den Jungen eher in ein Bordell mitnehmen.“
„Dann kriegt er’s mit mir zu tun!“, fauchte Dominic angewidert.
„Wäre das so schlimm? Solange die Mädchen sauber sind …“
Entschieden schüttelte Dominic den Kopf. Niemals würde er Jack erlauben, Alexandrow in Londoner Freudenhäuser zu führen. Dass die beiden ungebundene junge Männer waren und sich zweifellos die Hörner abstoßen mussten, spielte keine Rolle. Der Russe besaß ein ungestümes Temperament, und nur ein kühner Kampfgeist konnte ihn veranlasst haben, auf einer belebten nächtlichen Straße nach seinem Säbel zu greifen. Aber hinter seiner ehrbaren Art und der blinden Ergebenheit, die seinem Zaren galt, verbarg sich eine fast kindliche Unschuld. Und die durfte nicht verdorben werden. „Nein, Leo, das kommt nicht infrage, und das werde ich Jack in aller Deutlichkeit klarmachen. Wenn er mit Alexej Iwanowitsch ein Bordell besucht, ziehe ich ihm die Haut ab.“
„Meinst du das ernst?“ Erstaunt hob Leo die Brauen. Als er in Dominics Miene die Antwort las, fuhr er rasch fort: „Ja, offenkundig. Und da Jack weiß, wie gut du mit deinen Fäusten umgehen kannst, nämlich viel besser als er, wird er deine Wünsche nicht missachten.“ Gähnend stand er auf. „Jetzt bin ich reif fürs Bett. Und du?“
„Sobald ich meinen Brandy ausgetrunken habe. Morgen muss ich früher denn je aufstehen. Wir fahren für zwei Tage nach Oxford. Der Zar wünscht, die Universität zu besichtigen.“
„Ah, und Prinny wird sich wieder in Schale werfen. Bunte Westen mit zahllosen Goldborten …“ Seufzend ging Leo zur Tür. „Welch ein Glück, dass ich nicht dabei sein muss! Gute Nacht.“
Nachdenklich lehnte Dominic sich in seinem Sessel zurück und nahm einen Schluck Brandy. Wieder kehrten seine Gedanken zu dem jungen Russen zurück. Was faszinierte ihn so sehr an Alexandrow? Die sonderbare Kombination von einem kampferprobten, stolzen, tapferen Kavalleristen mit ausgeprägtem Ehrgefühl – und dem bartlosen Kinn eines Mädchens? Und dann diese faszinierende Stimme …
War sie der Grund für sein ständig wiederkehrendes Unbehagen? Diese Stimme, leicht heiser wie die der Frau in dem
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