Eine Frau mit Geheimnis
er kaum geschlafen, und er brauchte ein wenig Ruhe. Auch in den nächsten Tagen würde er keine Erholungspause genießen, wenn der Tatendrang des Zaren nicht nachließ.
Auch die Ersatzuniform war völlig durchnässt und in beklagenswertem Zustand. Fröstelnd zog Alex den Rock aus. Warum musste es in England so viel regnen? Nun würde sich der unermüdliche Zar in seiner Suite für Lady Jerseys Ball umziehen. Zum Glück würde ihn jemand anderer begleiten. Es war fast drei Uhr morgens, und Alex hatte seit über zwanzig Stunden ihren Dienst versehen. Müsste sie noch länger auf den Beinen bleiben, würde sie im Stehen einschlafen.
Sie rief ihren Offiziersburschen zu sich und übergab ihm beide Uniformröcke und den Tschako. Oft genug hatte der Mann Blutflecken aus dem Stoff entfernt. Also würde ihm das bisschen Wasser keine Schwierigkeiten bereiten. Gähnend schloss sie die Tür hinter ihm. Jetzt musste sie wirklich schlafen. Morgen – nein, schon an diesem Tag würde sie wieder ihre Pflichten erfüllen.
Sobald ihr Kopf das Kissen berührte, schlummerte sie ein. Doch es war nicht der erholsame Schlaf, den ihr erschöpfter Körper brauchte. Unheimliche, beklemmende Träume suchten sie heim. Unter der Last schwerer Kleidung drohte sie zu ertrinken. Mit den Beinen strampelnd versuchte sie die Oberfläche des Wassers zu erreichen. Doch es gelang ihr nicht. Wie von eigenem Leben erfüllt, schien der Wollstoff sie zu umschlingen – fest entschlossen, sie umzubringen.
Mit einem Schreckensschrei erwachte sie und merkte, dass sie mit dem Bettzeug gekämpft hatte.
In Schweiß gebadet, zitterte sie. Wie real dieser Albtraum gewesen war …
Reglos lag sie im Dunkel und starrte ins Nichts. In all den Jahren ihres Kriegsdienstes hatte sie niemals an Albträumen gelitten. Nicht einmal nach blutigen Schlachten. Warum jetzt?
Die Frage war leicht zu beantworten. Es hing mit ihren Gefühlen für den Duke of Calder zusammen. Mit jedem Tag, den sie in seiner Gesellschaft verbrachte, verstärkten sich diese Gefühle, obwohl sie sich mit aller Macht dagegen wehrte. Und obwohl sie ihn kaum kannte …
Nein, das stimmte nicht. In diesem Fall spielte die Dauer der Bekanntschaft keine Rolle. Von Anfang an hatte sie sich mit ihm verbunden gefühlt. Das wurde ihr plötzlich bewusst. Und dahinter musste viel mehr stecken als körperliches Verlangen.
Während sie in die Dunkelheit blickte und die Umrisse des Baldachins über ihrem Kopf auszumachen versuchte, erinnerte sie sich, wie sie Calder berührt hatte. Gegen ihren Willen. In Oxford, in der dunklen Gewitternacht. Mechanisch hatte sie nach ihm getastet, wie nach einem Beschützer. Warum? Niemals, in all den Jahren ihrer Rolle eines Mannes, hatte sie Schutz gesucht. Warum jetzt? Warum weckte der Duke dieses Schutzbedürfnis? Weil er mehr als körperliche Lust in ihr erregte?
Sie erinnerte sich an das Gefühl seines nassen Abendfracks unter ihren Fingern, an die warme Brust darunter. Das hatte sie in ihrem Traum bekämpft, nicht das Bündel nasser Kleider, das sie zu ertränken suchte, sondern den lebenden, atmenden Mann, dessen Bild sie unentwegt verfolgte, im Schlaf und im Wachen.
Wütend stieß sie einen russischen Fluch aus, sprang aus dem Bett und begann in der Finsternis umherzuwandern.
Der Fluch befreite sie von ihrem Zorn. Aber nur für wenige Sekunden. Dann erschien Calders Bild erneut vor ihrem geistigen Auge und stahl sich in ihr Herz, das bisher immun gegen die Anziehungskraft der Männer gewesen war. Nein, nicht nur Lust …
Alex wagte nicht mehr einzuschlafen. Neue Albträume würde sie nicht verkraften. Wenn sie wach blieb, würde es ihr vielleicht gelingen, an andere Dinge zu denken. Im Schlummer war sie ihren geheimsten Emotionen und Wünschen ausgeliefert.
Sie tastete nach der Zunderbüchse auf ihrem Nachttisch und zündete die Kerze an. Dann trat sie vor den Spiegel.
Große traurige Augen starrten sie aus einem bleichen Gesicht an. Nicht mehr das Gesicht eines jungen Soldaten voller Selbstvertrauen. Das Gesicht einer Frau, die gezwungen wurde, ihr Schicksal zu erkennen. Liebe. Eine unmögliche, unerreichbare Liebe. Bald musste sie sich mit der Trennung abfinden. Und danach ein einsames Leben, voller Verzweiflung …
7. KAPITEL
„Hast du heute Abend Dienst, Alexej Iwanowitsch?“, fragte Hauptmann Petrow höflich.
„Ja, aber erst später. Seine Majestät diniert mit Lord Castlereagh. Danach wird er die Oper besuchen, und ich soll ihn
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