Eine Frau mit Geheimnis
ziemlich ungebärdig.“
Mitfühlend schaute sie ihn an. Wie schrecklich, so jung den Vater zu verlieren … Sie selbst war erst neunzehn Jahre alt gewesen, als sie ihr Zuhause verlassen hatte. Aber ihr Vater lebte immer noch, daheim in Russland …
„Warum schweigen Sie, Alexej Iwanowitsch? Missbilligen Sie mein Verhalten?“
„Natürlich nicht. Unter den Umständen war es verständlich.“
„Seither habe ich mich ein bisschen gebessert.“
In seiner Stimme schwang eine gewisse Belustigung mit. Offenbar neigte er zur Selbstironie, eine bewundernswerte Eigenschaft.
„Und Sie, Alexej Iwanowitsch? Waren Sie auch ein wilder Junge?“
„Nun – eh – dafür fehlte mir die Zeit. Mit neunzehn schloss ich mich dem Heer an. Und seither habe ich ständig gekämpft.“
„Sicher nicht nur. Alle Offiziere in meinem Bekanntenkreis, und das sind sehr viele, erzählen mir immer wieder, wie ausgelassen es bei ihnen zugeht. Und was das betrifft, wird sich das russische Militär wohl kaum vom englischen unterscheiden. Warum …“
Ein gewaltiger Donnerschlag übertönte die Worte des Duke. Sekunden später prasselte der Regen auf ihre ungeschützten Köpfe herab, und er fluchte erbost. „Jetzt werden wir klatschnass!“, rief er. „Kommen Sie, gehen wir irgendwo in Deckung!“
Einen Arm um Alex’ Schultern gelegt, schob er sie in den Windschatten des nächstbesten Hauses. Da sie sich an ihren Entschluss erinnerte, schüttelte sie ihn ab, ohne zu überlegen, was er von ihrem unhöflichen Benehmen halten mochte. Sofort spürte sie seinen inneren Rückzug – als wäre eine kalte Mauer zwischen ihnen entstanden. Das tat ihr in der Seele weh, und sie schaute in sein Gesicht, um seine Stimmung zu erkunden. Aber im strömenden Regen sah sie ihn nur verschwommen.
Und dann löschte der Wolkenbruch die letzten Festbeleuchtungen.
Erschrocken hielt Alex den Atem an. Jetzt sah sie überhaupt nichts mehr. Instinktiv streckte sie die Hände aus und suchte nach einem Halt. Ihre tastenden Finger berührten den nassen Frackrock des Duke. Darunter spürte sie die Kraft seines warmen Körpers. Sekundenlang ließ sie ihre Hände auf seiner Brust liegen und glaubte, seine Lebenskraft würde in ihren eigenen Adern strömen. Nur für einen kurzen Moment …
Und dann erkannte sie ihren Wahnsinn. Hastig riss sie ihre Hände zurück. „Verzeihen Sie, Calder, ich …“
„Schon gut, Sie müssen sich nicht entschuldigen. Bald werden sich unsere Augen an das Dunkel gewöhnen, und dann finden wir unseren Weg zum Gasthaus. Hoffentlich haben Sie eine Ersatzuniform nach Oxford mitgenommen, Alexej Iwanowitsch. Dieser Rock sitzt schon eng genug. Wenn er in der Nässe eingeht, wird der Kragen Sie strangulieren.“
Dominic spähte aus dem Kutschenfenster. Im strömenden Regen sah er nichts von der Landschaft. Wenn die Pferde ihr Tempo nicht beschleunigten, würde die Fahrt nach London stundenlang dauern. Hätte er die Wahl, würde er in einem Gasthof anhalten, seinen Dienstboten und sich selbst eine Rast gönnen. Inzwischen musste der Kutscher völlig durchnässt und halb erfroren sein.
Doch sie durften sich keine Pause erlauben. Der Zar war vorausgefahren. Gewiss würde er noch in der Nacht in London ankommen. Und am frühen Morgen musste auch Dominic zur Stelle sein.
Armer Alexandrow! Er musste die Reise auf dem Pferderücken zurücklegen, um die Kutsche des Zaren zu eskortieren. Bei der Ankunft in London würde er genauso vor Nässe triefen wie in der vorangegangenen Nacht. Aber diesmal war das schlechte Wetter vorhergesagt worden, während man in der letzten Nacht nicht damit gerechnet hatte. Ohne Vorwarnung hatte der Regen die Illuminationen von Oxford gelöscht und den Festivitäten ein jähes Ende bereitet.
Nachdenklich strich Dominic sich übers Kinn. In der Dunkelheit musste der junge Russe die Orientierung verloren und unwillkürlich nach ihm getastet haben. Danach war er offenbar verwirrt gewesen, ebenso wie er selbst. Eine andere Erklärung gab es nicht für Alexandrows Verhalten. Ein Kavallerist sollte nach jahrelangen Feldzügen daran gewohnt sein, sich in der Finsternis zu bewegen. Ja, ganz gewiss – nur eine momentane Verwirrung, unter den Umständen verständlich. Aber furchtbar peinlich für den Jungen …
Natürlich werde ich das nicht erwähnen, nahm Dominic sich vor. Sonst würde er ihn in noch tiefere Verlegenheit stürzen.
Seufzend lehnte er sich in die Polsterung zurück und schloss die Augen. In letzter Zeit hatte
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