Eine Frau mit Geheimnis
Arme gehorchten nicht. Ein schwaches Lächeln umspielte Dominics Lippen. „Zu meinem Bedauern sind wir Engländer nicht daran gewöhnt, Männer zu küssen.“
Aus den Augenwinkeln sah sie den Major grinsen.
„Also sollte ich lernen, wie man das macht“, fügte Dominic hinzu. „Nicht wahr, Alexej Iwanowitsch?“ Er ließ sie nicht zu Wort kommen. Stattdessen legte er seine Hände auf ihre Schultern, neige sich hinab und küsste die Luft rechts und links von ihren Wangen. Dann richtete er sich auf und ließ sie sofort los, als fürchtete er, sie würde an einer ansteckenden Krankheit leiden. Höchstens fünf Sekunden lang hatte er sie berührt.
Alex fühlte sich gedemütigt. Trotz des kurzen Kontakts schienen ihre Schultern zu brennen. Und ihre Wangen glühten, obwohl sie Dominics Lippen nicht gespürt hatten. Sie öffnete den Mund, wollte etwas sagen. Aber ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie brachte kein Wort hervor.
„Nun, Sir …“ Major Zass lachte herzhaft. „Genau genommen war das nicht ganz so, wie es die Russen machen. Aber ich danke Ihnen für den höflichen Versuch.“
Da begannen seine Untergebenen zu lachen, und die angespannte Atmosphäre lockerte sich. Sogar Dominic stimmte in das Gelächter ein.
Diesem Beispiel versuchte Alex zu folgen, das Zittern in ihren weichen Knien zu bekämpfen. Beneidenswert, wie unbeschwert Dominic wirkte, während er mit dem Major plauderte … Doch dann las sie etwas anderes in seinem Blick – er glaubte, er hätte sie völlig verwirrt, und er sorgte sich um sie. In diesem Moment erkannte sie die ganze Wahrheit. Er bemitleidete sie! Verdammt, das ließ sie nicht zu!
„Vielleicht, Major“, begann sie entschlossen, „sollten wir dem Duke beweisen, dass wir die englischen Sitten ebenso gut übernehmen können wie er die unseren.“ Sie streckte ihre Hand aus, die dank schierer Willenskraft kein bisschen bebte. „Möchten Sie zum Abschied meine Hand schütteln, Calder?“
Er zögerte. Offenbar widerstrebte es ihm, diesen Mann anzufassen, mit dem er sich angefreundet hatte und den er jetzt wegen dessen Neigungen verachtete. Aber Alex wollte betonen, dass sie ihm ebenbürtig war. Reglos stand sie da, die Hand ausgestreckt, und wartete.
Vor den Augen des versammelten Zarengefolges durfte er sich nicht weigern, Alex’ Hand zu schütteln. Und so ergriff er ihre schmalen Finger.
„Leben Sie wohl, Calder“, sagte sie mit neu gewonnenem Selbstvertrauen. „Vielen Dank für Ihre freundliche Hilfe bei der Ausübung meiner Pflichten und die Dienste, die Sie unserem geliebten Zaren erwiesen haben.“
Nachdem sie seine Hand losgelassen hatte, schlug sie die Hacken zusammen und verneigte sich.
„Bravo, Alexej Iwanowitsch“, sagte Dominic, ohne seine Bewunderung zu verhehlen. „Anscheinend beherrschen Sie die Sitten und Gebräuche aller Verbündeten. Eines Tages, wenn Sie Ihre Fähigkeiten nicht mehr auf den Schlachtfeldern demonstrieren, werden Sie bemerkenswerte Erfolge in der Diplomatie erzielen.“
Allmählich brach die Dunkelheit herein. Nein, unmöglich. Nicht im Juni, nicht so früh am Abend. Also musste es am unablässigen, trostlosen grauen Regen liegen.
Alex stand an der Reling und glaubte immer noch die hochgewachsene, imposante Gestalt des Duke of Calder am Kai zu erblicken. Doch es musste ein Trick des trüben Lichts sein. Dover verschwand im Nebel.
Schließlich sah sie gar nichts mehr. Trotzdem konnte sie sich nicht von der Reling abwenden. Nur ein schwacher Wind wehte über das Meer hinweg, und die Überfahrt würde lange dauern, für Alex ein Segen. Diesmal musste sie keine Übelkeit befürchten – insbesondere, wenn sie an Deck blieb, in der frischen Luft. Dazu hatte Dominic ihr geraten.
Ein Seemann brachte ihr einen Becher. Darum hatte sie nicht gebeten. Aber sie erkannte das charakteristische Aroma des heißen Ingwers und nahm das Getränk dankbar entgegen. Zweifellos hatte der Duke of Calder der Besatzung aufgetragen, Hauptmann Alexandrow während der Schiffsreise regelmäßig mit der Arznei zu versorgen. Typisch, wie fürsorglich er an den jungen Husaren gedacht hatte …
„Vielen Dank“, sagte sie auf Englisch. Warum auch nicht? Sie hatte England verlassen und würde wohl kaum jemals zurückkehren. Deshalb spielte es keine Rolle, ob jemand vermuten würde, dass sie diese Sprache beherrschte.
Inbrünstig wünschte sie, es wäre nicht nötig gewesen, Dominic zu täuschen. Und wozu? Nur für ein paar Informationen, die sie dank ihrer
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