Eine für alle
Unternehmen
Am nächsten Morgen war es schwierig für mich, Freemans Büro zu erreichen. Bei den ersten drei Malen zählte ich zwanzig Klingelzeichen, bevor ich auflegte. Was in aller Welt war mit der Telefonanlage passiert? Der Anruf hätte an die Telefonzentrale durchgestellt werden müssen. Als ich das vierte Mal anrief, meldete sich ein Mann, der vorgab, nicht zu wissen, wo Freeman sei. Als er bei der Bitte, Freeman etwas auszurichten, zögerte, beschloss ich hinzufahren.
Ich war nicht mehr in der Kanzlei Crawford, Mead gewesen, seit sie ihren neuen Sitz in der Nähe vom Wacker Drive hatte, aber die Nussbaumtäfelung, der rotbraune Ferahan, der rechts neben dem Eingang hing, und die beiden überdimensionalen Tangvasen waren geblieben.
Leah Caudwell war schon die Empfangsdame der Kanzlei gewesen, bevor Dick dort angefangen hatte. Sie hatte mich immer gemocht, und als Dick und ich uns trennten, hatte sie in mir die geschädigte Partei gesehen. Dass Dick moralisch unter Druck geriet, entschuldigte mich für die fehlenden Alimente.
Ich ging mit einem fröhlichen Gruß auf den Lippen zum Empfangstresen, sah aber eine fremde junge Frau vor mir, gut und gern dreißig Jahre jünger als Leah. Sie war bleistiftdünn und trug ein hautenges grünes Strickkleid sowie jede Menge Lippenstift. »Ist Leah krank?«, fragte ich.
Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Sie hat uns vor dem Umzug verlassen. Kann ich Ihnen helfen?«
Wider alle Vernunft verletzte es mich, dass Leah gegangen war, ohne mir etwas davon zu sagen. Ich nannte der jungen Frau etwas schroff meinen Namen und sagte ihr, ich wolle zu Freeman.
»Ach je. Haben Sie einen Termin bei ihm?«
»Nein. Ich habe den ganzen Morgen lang versucht, ihn telefonisch zu erreichen, und habe gedacht, es ist einfacher, wenn ich vorbeikomme. Ich kann aber auch mit seiner Sekretärin sprechen; was ich brauche, geht auch ohne ihn.« »Ach je«, wiederholte sie hilflos und schüttelte die fedrigen Locken. »Na ja, vielleicht haben Sie recht. Wenn Sie bitte Platz nehmen möchten, lasse ich Catherine ausrufen. Wie war doch gleich Ihr Name?«
Nach meinem vergeblichen Anruf konnte ich mir schon denken, dass Catherine Gentry, Freemans Sekretärin, nicht kommen würde. Aus dem Verhalten der Empfangsdame ging hervor, dass mit Freeman etwas nicht stimmte, aber es gelang mir nicht, etwas aus ihr herauszubekommen. Nachdem ich ihr meine Visitenkarte gegeben hatte, ging ich zu den rotbraunen Sesseln unter dem Ferahan hinüber. Als Dick vor vierzehn Jahren in der Kanzlei anfing, erzählte er mir voller Ehrfurcht, der Teppich sei auf fünfzigtausend Dollar versichert.
Als ich zehn Minuten gewartet und im Wall Street Journal und in alten Ausgaben von Newsweek geblättert hatte, kam eine mollige junge Frau heraus, flüsterte der Empfangsdame etwas zu und kam zu mir herüber.
»Sind Sie Ms. Warshawski?« Sie unternahm den ehrenwerten Versuch, meinen Nachnamen auszusprechen. »Ich bin Vivian Copley - Anwaltsassistentin -, in letzter Zeit habe ich viel für Mr. Carter gearbeitet. Weshalb wollten Sie zu ihm?«
»Es ist eine Angelegenheit, in der Sie mir bestimmt auch helfen könnten, aber was ist mit Freeman? Ich habe seit ein paar Wochen nicht mehr mit ihm gesprochen.« Sie kicherte nervös hinter vorgehaltener Hand. »Du liebe Zeit. Ich spreche ungern ... ich weiß nicht, ob wir das dürfen ... aber vermutlich steht es sowieso in der Zeitung.« »Was?«, erwiderte ich scharf.
»Er hat am Freitag erklärt, dass er sich aus der Kanzlei zurückzieht. Er ist aufgefordert worden, seine Sachen sofort zu packen. Heute ist Catherine hier und kümmert sich um seine Akten, aber ab morgen arbeitet sie auch nicht mehr hier. Wenn Sie mir also sagen, weshalb Sie zu ihm wollten, können wir überlegen, wer Ihnen am besten helfen kann.«
Ich musterte für einen Moment meine Nägel und fragte mich, ob ich Dick oder Todd Pichea verlangen sollte. Das wäre ein Knalleffekt gewesen, aber was hätte mir das eingebracht?
Ich stand auf. »Freeman kümmert sich schon so lange um meine Angelegenheiten, dass ich mit niemandem sonst zusammenarbeiten möchte. Warum bringen Sie mich nicht einfach zu Catherine?«
Sie drehte eine Haarsträhne um den Finger. »Wir dürfen wirklich -«
Ich lächelte energisch. »Warum bringen Sie mich nicht einfach zu Catherine?«
»Ich glaube, darüber muss ich erst mit meinem Chef sprechen.« Sie huschte wieder durch die Tür, die zu den Büros der Kanzlei führte.
Kurz darauf folgte
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