Eine für vier 01 - Eine für vier
so gern, dass ihr das alles nichts ausmachte. Sollten sich andere Mädchen darüber beklagen, die ihre Väter jeden Tag sahen. Sie bekam ihren nur wenige Male im Jahr zu Gesicht.
»Du siehst wunderschön aus, Süße«, sagte er munter. »Ich glaube, du bist wieder gewachsen.« Er legte ihr die Hand oben auf den Kopf.
»Bin ich auch«, sagte sie stolz. Es war für sie immer eine schöne Vorstellung, dass sie ihm durch ihre Größe ähnlich war. »Ich bin einsachtundsechzigeinhalb«, berichtete sie. »Schon fast einssiebzig.«
»Wow«, sagte er aus seiner Höhe von einsachtundachtzig herab. »Wow. Wie gehts deiner Mutter?«
Diese pflichtbewusste Frage stellte er ihr immer schon in den ersten fünf Minuten.
»Bestens«, gab Carmen dann jedes Mal zurück. Sie wusste, dass ihr Vater keine ausführliche Antwort hören wollte. Jahr um Jahr erkundigte sich Carmens Mutter mit fanatischer Neugier nach ihrem Vater, aber ihr Dad fragte nur aus Höflichkeit nach ihrer Mom.
Wie lautlose Tropfen mischten sich Schuldgefühle unter die strahlenden Farben von Carmens Freude. Sie war fast einssiebzig groß, aber ihre Mutter war kaum über einsfünfzig. Ihr Vater hatte sie Süße genannt und ihr gesagt, dass sie schön wäre, aber ihre Mutter war ihm egal.
»Was machen deine Freundinnen?«, fragte er, während sie sich nebeneinander auf die Rolltreppe quetschten. Sein Arm war immer noch um ihre Schultern geschlungen.
Er wusste, wie es mit ihr und Tibby und Lena und Bridget war. Und er konnte sich immer daran erinnern, was sie ihm beim letzten Mal aus ihrem Leben erzählt hatte.
»Das ist ein komischer Sommer für uns«, sagte sie. »Der erste Sommer, in dem wir getrennt sind. Lena ist bei ihren Großeltern in Griechenland, Bridget ist in einem Fußball-Camp auf Baja California. Tibby ist als Einzige zu Hause.«
»Und du bist den ganzen Sommer hier«, sagte er. In seinen Augen lag eine kaum wahrnehmbare Frage.
»Ich freu mich so, hier zu sein«, sagte Carmen, schmetterte ihre Antwort laut und deutlich hervor. »Ich kann’s kaum noch erwarten. Es ist nur irgendwie komisch, weißt du? Ich meine, nicht komisch im schlechten Sinn. Komisch in einem guten Sinn. Es wird uns gut tun, mal ein bisschen rumzukommen. Du weißt ja, wie wir sonst sind.« Ihr wurde bewusst, dass sie belangloses Zeug plapperte. Sie hasste es, wenn ihr Vater unsicher war.
Er zeigte auf ein Transportband, das Gepäckstücke im Kreis herumsurren ließ. »Ich glaube, das ist von deinem Flug.«
Ihr fiel ein, wie er ihr in Washington beide Hände über den Kopf gehalten hatte, während sie auf dem Karussell fuhr. Nach einer halben Umdrehung hatte ein Wachmann sie angeschrien und ihr Vater hatte sie heruntergezogen.
»Es ist ein großer, schwarzer Koffer mit Rädern dran. Er sieht aus wie alle anderen auch«, sagte sie. Es war seltsam, dass er ihren Koffer noch nie gesehen hatte. Sie hatte ihn noch nie ohne seinen Koffer gesehen.
»Der da!«, sagte sie plötzlich und ihr Vater stürzte sich darauf. Er zerrte ihren Koffer vom Band, als hätte er sich sein ganzes Leben lang nur darauf vorbereitet. Die türkisfarbenen Ziermünzen an ihrer Schultertasche funkelten und blitzten.
Er trug ihren großen Koffer, anstatt ihn zu rollen. »Alles klar. Los, gehen wir.« Er wies in die Richtung vom Parkplatz.
»Hast du noch deinen Saab?«, fragte Carmen. Autos gehörten zu ihren gemeinsamen Interessen,
»Nein. Den hab ich im Frühjahr gegen einen Kombi eingetauscht.«
»Wirklich?« Daraus wurde sie nicht schlau. »Gefällt er dir?«
»Er erfüllt seinen Zweck«, sagte er und führte sie geradewegs darauf zu. Es war ein beigefarbener Volvo. Sein Saab war rot gewesen.
»Also, auf geht s.« Er machte ihr die Tür auf und ließ sie mit ihrer Tasche Platz nehmen. Erst dann lud er hinten ihren Koffer ein. Wo lernen Väter so etwas? Und warum brachten sie es ihren Söhnen nicht bei?«
»Wie hast du dieses Jahr abgeschnitten?«, erkundigte er sich, während er den Wagen vom Parkplatz steuerte.
»Richtig gut«, gab sie zur Antwort. Sie freute sich schon immer darauf, ihm einen Lagebericht zu geben. »Ich hab eine Eins in Mathe, Bio, Englisch und Französisch und eine Eins minus in Weltgeschichte.« Ihre Mutter fand, dass sie sich zu viel Sorgen um die Schule machte. Aber für ihren Vater waren Noten wichtig.
»Süße, das ist ja fabelhaft. Und die zehnte Klasse war so ein wichtiges Schuljahr.«
Er wollte, dass sie aufs Williams-College ging, genau wie er. Das wusste sie,
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