Eine ganz andere Geschichte
erschießen können, um sich dann in aller Ruhe um die Ehefrau zu kümmern. Das war kein Ding der Unmöglichkeit … und trotzdem, dachte Barbarotti, trotzdem spricht vieles dafür, dass sie einander gekannt haben. Der Mord hatte wahrscheinlich draußen an Deck stattgefunden, und warum sollte man einem Fremden mitten in der Nacht an Deck folgen? Wenn man zusammen mit seinem Ehemann oder sei
ner Ehefrau reiste. Wie gesagt.
Zunächst er, dann sie. Oder umgekehrt.
Beide zugleich?
Nein, das erschien ganz einfach nicht möglich.
Aber dass sie einander kannten, der Mörder und die Opfer, das war natürlich nichts Neues. Man hatte ja beschlossen, dass allem eine Art von Motiv zu Grunde liegen müsste, oder? Dass es sich nicht um zufällig ausgesuchte Zielscheiben handelte.
Als Gunnar Barbarotti in seinen Überlegungen so weit gediehen war, hörte er es draußen auf dem Flur rascheln. Die heutige Post war eingetroffen, und fünf Minuten später wusste er nicht, ob er tatsächlich eine Vorahnung gehabt hatte oder alles nur Einbildung gewesen war.
Dass Der Herrgott zwei wohlverdiente Punkte einstreichen konnte, daran herrschte zumindest keinerlei Zweifel.
Wieder Handschuhe an und dann den Umschlag gegen die Obstscha
le auf dem Küchentisch gelehnt.
Hellblau und länglich, genau wie Nummer drei und vier.
Sein Name und seine Adresse waren in der gleichen Art geschrieben, mit den gleichen plumpen Versalien. Die Briefmarke aus der gleichen Schärenserie, ein stilisiertes Segelboot vor blauem Meer und blauem Himmel.
Er versuchte auszurechnen, wie viele Tage vergangen waren, seit er den ersten Brief in Händen gehalten hatte, an diesem Morgen, als er dem Briefträger draußen im Treppenhaus auf dem Weg nach Gotland, zu Marianne, begegnet war.
Zweiundzwanzig zählte er. Es handelte sich tatsächlich nur um gut drei Wochen. Vier Briefe bisher, vier Morde. Zumindest, wenn man Henrik Malmgren mitrechnete, und das konnte man wohl tun.
Und jetzt Nummer fünf. Ein fünfter Mensch wartete darauf, getötet zu werden – oder war bereits getötet worden, wenn man Realist blei ben wollte. Zwar ist die Kaltblütigkeit des Verbrechers bereits ausreichend belegt, dachte Barbarotti, aber dass es den Namen einer Person geben sollte, die immer noch am Leben war – und die in irgendeiner Art und Weise mit den früheren Opfern in Verbindung stand –, dass er hier in diesem Umschlag stand, den er noch nicht geöffnet hatte, ja, das war schwer vorstellbar. Sehr schwer.
Ungeöffnet, wie gesagt. Noch nicht aufgeschlitzt und noch nicht gelesen. Was tun?
Ja, was tun?
Das, dachte Kriminalinspektor Barbarotti, das also ist des Pudels Kern. Kein Drumherumgerede. Was tun? Wenn er seine zukünftige Karriere betrachtete – und seine Beförderungsmöglichkeiten innerhalb der Kriminalpolizei –, dann herrschte kein Zweifel daran, was er zu tun hatte. Augenblicklich Kriminaldirektor Jonnerblad anrufen und ihn bitten, den Brief abzuholen. Seitdem er von den Ermittlungen ausgeschlossen worden war, hatte er keine neuen Instruktionen bekommen, wie er sich bei weiteren Briefsendungen zu verhalten hatte, zumindest keine ausdrücklichen, aber es wäre so oder so schwer zu behaupten, er hätte ihn in gutem Glauben geöffnet. Jonnerblad wie auch Tallin würden stinksauer sein, wenn er das Gleiche noch einmal tun würde. Sie würden es so auffassen, als spielte er sein eigenes Spiel, täte genau das Gegenteil von dem, was sie von ihm wollten – und wenn es etwas gab, was Polizisten in Führungsposition nicht vertragen konnten, dann sind es Untergebene, die ihr eigenes Spiel spielen. Das wusste jeder Schutzmann, sie würden ihn nie wieder in ihren Kreis aufnehmen.
Er starrte den Umschlag auf dem Küchentisch an. Plötzlich tauchte Birgit Cullberg in seinem Kopf auf. Er fragte sich zuerst, was um alles in der Welt sie da zu suchen hatte, er hatte absolut keine Beziehung, weder zu ihr noch zum modernen Tanz überhaupt, doch dann wurde es ihm klar. Vor ein paar Jahren hatte er zufällig einmal ein Interview mit der alten Tanzlegende im Fernsehen gesehen, sie hatte eine sogenannte listige und schwer zu bewältigende Frage von dem jungen Reporter gestellt bekommen, sie hatte ihn eine ganze Weile auf die Antwort warten lassen, es handelte sich wahrscheinlich um irgendei ne verzwickte kulturpolitische Raffinesse, über die man lieber nicht sprach.
Schließlich hatte sich ihr Gesicht in einem großen Lachen geöffnet, und sie hatte die sublimste aller Antworten
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