Eine Geschichte aus zwei Städten
ganz und gar über die Sache und schafft ihn, jedenfalls für eine Weile, fort aus Frankreich. Sogar ich vermeide es, davon zu reden, obschon mir meine Nationalität Sicherheit gibt, und Tellsons nehmen sich in acht, trotz ihrer Bedeutung für den französischen Kredit. Ich trage keinen Fetzen Papier bei mir, der eine offene Beziehung darauf hätte. Es handelt sich ganz und gar um ein Dienstgeheimnis. Meine Beglaubigungs-, Einführungs- und Empfehlungsbriefe beschränken sich auf die paar Worte: ›Ins Leben zurückgerufen‹, und man kann unter ihnen alles verstehen. Doch was ist das? Sie hört mich nicht! Miß Manette!«
Sie saß vollkommen still und unbewegt unter seiner Hand und war nicht einmal gegen die Stuhllehne zurückgesunken, trotz dem Zustande von Bewußtlosigkeit, in dem sie sich befand. Ihre Augen standen offen und waren auf ihn gerichtet; auch schien der starre Ausdruck mit dem Meißel oder dem Brandeisen in ihre Stirn eingegraben zu sein. Sie hielt seinen Arm so fest umschlungen, daß er sich, um ihr nicht weh zu
tun, scheute, ihre Hände loszumachen, und in dieser Not rief er, ohne sich von der Stelle zu rühren, laut um Hilfe.
Eine wild aussehende Weibsperson – Mr. Lorry bemerkte sogar in seiner Aufregung, daß sie durchweg rot aussah und auch rote Haare hatte, in eine merkwürdig knapp anliegende Tracht gekleidet war und eine höchst wundersame Haube von der Gestalt eines mächtigen hölzernen Grenadierkübels oder eines großen Stiltoner Käses auf dem Kopf hatte – kam als Vortrab des Wirtshausgesindes in das Zimmer gerannt und erledigte alsbald die Frage, wie er von der armen jungen Dame loskäme, damit, daß sie ihm mit sehniger Faust einen Stoß vor die Brust versetzte, so daß er gegen die nächste Wand flog.
›Das muß wahrhaftig ein Mannsbild sein‹, dachte der atemlose Mr. Lorry, als er sich so gegen die Mauer geschleudert fühlte.
»Was soll euer Gegaff da!« rief die Weibsperson, gegen die Gasthausdienerschaft gewandt. »Warum geht ihr nicht, um das Nötige zu holen, und steht hier, um mich anzuglotzen? Ist denn so viel an mir zu sehen, he? Warum bringt ihr mir nichts? Paßt auf, ihr sollt was erleben, wenn nicht hurtig Riechsalz, kaltes Wasser und Weinessig herkommt. Nun, wird's bald?«
Es flog alles auseinander, um die gewünschten Belebungsmittel herbeizuschaffen, und die Frau legte in der Zwischenzeit die Ohnmächtige sanft auf das Sofa. Sie zeigte dabei viel Geschick und Zartheit, nannte sie ihr ›Schätzchen‹, ihr ›Vögelchen‹ und streifte mit Sorgfalt und Stolz das goldene Haar aus dem Antlitz der Patientin über die Schultern zurück.
»Und Ihr, Brauner, da«, sagte sie, entrüstet sich gegen Mr. Lorry umwendend, »konntet Ihr dem armen Kind nicht sagen, was Ihr ihm zu sagen hattet, ohne es auf den Tod zu erschrecken? Schaut sie an mit ihrem hübschen blassen Gesicht und ihren kalten Händen. Treiben's alle Bankiers so?«
Mr. Lorry war über diese schwer zu beantwortende Frage so übermäßig betroffen, daß er nur aus der Ferne mit sehr untätiger Teilnahme und Zerknirschung zuzuschauen vermochte, während das Mannweib, nachdem es die Hausdienerschaft unter der geheimnisvollen Drohung verbannt hatte, sie etwas nicht namhaft Gemachtes erleben zu lassen, wenn sie gaffend stehen bleibe, ihren Pflegling allmählich zur Besinnung brachte und durch Schmeichelworte bewog, das haltlose Köpfchen auf ihre Schulter zu legen.
»Ich hoffe, es geht ihr jetzt besser«, sagte Mr. Lorry.
»Dann ist jedenfalls Euer brauner Rock unschuldig daran. – Mein Herzkäferchen!«
»Ich hoffe«, bemerkte Mr. Lorry nach einer abermaligen Pause hilfloser Teilnahme und Zerknirschtheit, »daß Ihr Miß Manette nach Frankreich begleiten werdet.«
»Sehr wahrscheinlich«, versetzte die tüchtige Frau. »Wenn es mir immer bestimmt war, daß ich über das Salzwasser soll, meint Ihr, die Vorsehung würde mich auf einer Insel zurückhalten?«
Abermals eine schwer zu beantwortende Frage, und Mr. Jarvis Lorry zog sich zurück, wie um darüber nachzudenken.
Fünftes Kapitel
Die Weinschenke
Ein großes Weinfaß war auf die Straße gefallen und geborsten. Der Unfall hatte sich zugetragen, als man es abladen wollte; man konnte es nicht mehr halten, durch die Gewalt des Aufpralls sprangen die Reifen, und da lag es nun unmittelbar vor der Kellertür wie eine Nußschale zerschellt auf den Steinen.
Wer in der Nähe war, gab seine Arbeit oder seinen Müßiggang auf und eilte nach der Stelle, um
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