Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
Vom Netzwerk:
Oberhand, daß das Schicksal, das ihm bevorstand, keine Schande für ihn bedeute; denn Scharen hatten vor ihm denselben Gang als Unschuldige angetreten und fügten sich Tag für Tag standhaft in ihr Los. Ein kräftigender Gedanke, dem sich noch die weitere Betrachtung anschloß, daß viel von dem
künftigen Seelenfrieden seiner Lieben von der seelischen Haltung abhing, mit der er aus dem Leben schied. So gewann er allmählich eine ruhigere Stimmung, die ihn befähigte, seine Gedanken höher zu erheben und daraus Trost zu gewinnen.
    Ehe es noch am Abend nach seiner Verurteilung völlig dunkel geworden, hatte er bereits diesen Sieg über sich davongetragen. Da er jetzt Licht und Schreibmaterialien kaufen durfte, so setzte er sich nieder, um zu schreiben, bis die Lichter im Gefängnis gelöscht werden mußten.
    Er schrieb einen langen Brief an Lucie, in dem er ihr erklärte, daß er von ihres Vaters Einkerkerung nichts gewußt habe, bis er es von ihr selbst erfuhr, und daß er noch viel weniger von der Beteiligung seines Vaters und seines Onkels an diesem Elend unterrichtet gewesen sei, ehe jene Schrift in seiner Gegenwart verlesen wurde. Er habe ihr schon früher mitgeteilt, daß ihr Vater es zur Bedingung seiner Einwilligung in ihre Vermählung gemacht, daß er auch ihr gegenüber den aufgegebenen Namen geheimhalte; das sei die einzige Zusage gewesen, die er ihm am Morgen der Trauung abgenommen, und er sehe jetzt den Grund dafür vollkommen ein. Er bitte sie, um ihres Vaters willen sich nie zu erkundigen, ob das Vorhandensein jener Schrift ganz vergessen oder ob er sich ihrer plötzlich erinnert habe bei der Geschichte vom Tower an jenem Sonntag unter der lieben Platane im Garten. Wenn er eine unbestimmte Erinnerung daran bewahrte, so könne es keinem Zweifel unterliegen, daß er vermutet habe, jene Schrift sei mit der Bastille zugrunde gegangen, weil sie nicht erwähnt worden sei unter den von den Volkshaufen dort aufgefundenen Reliquien der Gefangenen, über die man ja in alle Welt hinaus geschrieben habe. Er ersuche sie – freilich brauche er ihr das nicht erst ans Herz zu legen –, ihren Vater dadurch zu trösten, daß sie in möglichst schonender Weise ihm versichere, er habe nichts
getan, worüber er sich mit Recht einen Vorwurf machen müßte, sondern im Gegenteil um ihrer beider willen versucht habe, sich selbst zu vergessen. Er versichere sie seiner dankbaren Liebe bis ans Ende und schicke ihr seinen Segen; dabei beschwöre er sie, so wahr sie sich im Himmel wiederfinden würden, sich ihrem Kinde zu widmen und ihrem Vater zum Trost zu leben.
    Auch ihrem Vater schrieb er in demselben Sinne und fügte für ihn hinzu, daß er sein Weib und sein Kind ausdrücklich seiner Obhut anvertraue. Dies tat er mit sehr eindringlichen Worten, indem er hoffte, dadurch Verzweiflung oder gefährliche Rückblicke in die Vergangenheit abzuwehren, in die der alte Mann, wie er fürchtete, wieder versinken konnte.
    Mr. Lorry empfahl er seine Angehörigen, indem er ihm zugleich Aufschlüsse über seine Vermögensangelegenheiten gab. Nachdem er noch die Versicherungen dankbarer Freundschaft und warmer Anhänglichkeit beigefügt hatte, war er mit seiner Arbeit fertig. Cartons gedachte er mit keiner Silbe. Sein Herz war so voll von den übrigen, daß sich für diesen kein Platz mehr fand.
    Er war mit seinen Briefen zustande gekommen, noch ehe die Lichter gelöscht werden mußten. Als er sich auf seine Streu niederlegte, tat er es in dem Bewußtsein, daß er mit der Welt abgeschlossen habe.
    Aber sie winkte ihn in seinem Schlafe wieder zurück und zeigte sich in den verlockendsten Gestalten. Frei und glücklich, leichten Herzens und auf eine unerklärliche Weise befreit, bewohnte er wieder das alte Haus in Soho, obschon es ganz anders aussah als sonst; Lucie befand sich an seiner Seite und erzählte ihm, es sei alles nur ein Traum und er nie weg gewesen. Eine Pause des Vergessens, und es kam ihm vor, er sei hingerichtet worden und wieder zu ihr zurückgekommen, tot zwar
und voll Frieden, aber doch immer noch der alte. Abermals eine Pause des Vergessens, und er erwachte am trüben Morgen, ohne zu wissen, wo er war und was mit ihm vorgegangen, bis es plötzlich in seinem Geiste wieder klar wurde: ›Dies ist der Tag deines Todes.‹
    So waren ihm die Stunden entschwunden bis zu dem Tage, an dem die zweiundfünfzig Köpfe fallen sollten. Und nun er dem Ausgang mit Fassung entgegensah und er ihn mit ruhigem Heldenmut bestehen zu können

Weitere Kostenlose Bücher