Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
Vom Netzwerk:
hoffte, begann in seinen wachen Gedanken eine neue Tätigkeit, die sich nur schwer bewältigen ließ.
    Er hatte nie das Instrument gesehen, das seinem Leben ein Ende machen sollte. Wie hoch stand es vom Boden ab – wie viele Stufen führten zu ihm – wo stand es wohl – wie faßte man ihn an – waren die ihn berührenden Hände mit Blut befleckt – wie mußte er sein Gesicht drehen – wer kam zuerst, wer zuletzt an die Reihe? Diese und viele ähnliche Gedanken drängten sich ihm gegen seinen Willen wieder und wieder unzähligemal auf. Sie waren keine Folge der Furcht – da er dieses Gefühl überwunden hatte –, sondern hatten eher ihren Ursprung in einem seltsamen Drange, zu wissen, wie er sich verhalten sollte, wenn die Zeit kam – allerdings ein Wunsch, der in einem riesigen Mißverhältnis stand zu den paar kurzen Augenblicken, auf die er sich bezog, und ihm eher von einem anderen Geist als von seinem eigenen eingegeben zu sein schien.
    Die Stunden entwichen, während er auf und ab ging, und die Uhren verkündeten lauter Zahlen, die er nicht wieder hören sollte. Neun vorbei für immer, zehn vorbei für immer, elf vorbei für immer, und die letzte Zwölf stand bald bevor. Nach einem schweren Kampf mit der regellosen Gedankentätigkeit, die ihn so verwirrte, wurde er auch über sie Herr. Er ging auf
und ab und sprach leise die Namen seiner Lieben vor sich hin. Das Ärgste war vorüber. Er konnte frei von den sinnberückenden Vorstellungen auf und ab wandeln und für sich und für sie beten.
    Zwölf vorbei für immer.
    Er hatte vernommen, daß drei die letzte Stunde sein werde, und wußte, daß man die Gefangenen etwas früher aufzurufen pflegte, weil die Karren nur langsam und schwerfällig durch die Straßen holperten. Er nahm sich daher vor, zwei Uhr als die Zeit des Aufbruchs anzunehmen und bis dahin Kraft zu sammeln, um imstande zu sein, auch auf andere kräftigend einzuwirken.
    Während er mit auf der Brust gekreuzten Armen regelmäßigen Schrittes und in ganz anderer Stimmung als in dem Gefängnis La Force auf und ab ging, hörte er ohne Überraschung in der Ferne eins schlagen. Die Stunde war ihm nicht kürzer vorgekommen als die meisten anderen. Mit demütigem Dank für die wiedergewonnene Fassung dachte er: ›Jetzt habe ich noch eine‹, und fuhr in seinem Spaziergang fort.
    Schritte auf dem Steinflur draußen vor der Tür. Er blieb stehen. Der Schlüssel wurde in das Schloß gesteckt und umgedreht. Ehe die Tür aufging, oder beim Öffnen, sagte ein Mann leise in englischer Sprache: »Er hat mich nie hier gesehen; ich bin ihm stets ferngeblieben. Geht allein hinein; ich will in der Nähe warten. Verliert keine Zeit!«
    Die Tür ging rasch auf und wieder zu, und nun stand Angesicht in Angesicht ruhig, mit dem Licht eines Lächelns auf seinen Zügen, Sydney Carton, der den Zeigefinger warnend an die Lippen legte, ihm gegenüber.
    Es war etwas so Leuchtendes und Merkwürdiges in seinem Gesicht, daß der Gefangene im ersten Augenblick ein Geschöpf seiner Einbildungskraft vor sich zu sehen glaubte. Aber
er sprach, und es war seine Stimme; er drückte dem Gefangenen die Hand, und es war ein wirklicher Druck.
    »Von allen Menschen auf Erden habt Ihr wohl mich am wenigsten zu sehen erwartet?« sagte er.
    »Ich konnte nicht glauben, daß Ihr es seid – kann es kaum jetzt glauben. Ihr seid doch nicht« – ein plötzlicher Argwohn stieg in ihm auf – »ein Gefangener?«
    »Nein. Ich besitze zufällig Gewalt über einen von den Schließern hier, und diesem Umstande habe ich zu danken, daß ich vor Euch stehe. Ich komme von ihr – von Eurer Frau, mein lieber Darnay.«
    Der Gefangene drückte ihm die Hand.
    »Ich bringe Euch eine Bitte von ihr.«
    »Die wäre?«
    »Eine sehr ernste, dringende und flehentliche Bitte, die sie in den ergreifendsten Tönen ihrer Euch so wohlbekannten Stimme an Euch richtet.«
    Der Gefangene wendete sein Gesicht halb ab.
    »Ihr habt keine Zeit, mich zu fragen, warum ich der Überbringer bin und worauf sie zielt, wie denn auch mir die Zeit zum Antworten gebricht. Laßt's Euch genügen, wenn ich Euch sage: Legt diese Eure Stiefel ab und zieht die meinigen an.«
    Hinter dem Gefangenen stand ein Stuhl an der Wand der Zelle. Carton hatte mit Blitzeseile ihn darauf niedergedrückt und stand im Nu barfüßig vor ihm.
    »Zieht meine Stiefel an. Vorwärts; zieht herzhaft – hurtig!«
    »Carton, von hier ist an ein Entrinnen nicht zu denken. Es geht nicht. Ich zöge Euch nur mit in

Weitere Kostenlose Bücher