Eine Geschichte aus zwei Städten
knarrte die Tür ärgerlich in ihren Angeln, ging aber nur so weit auf, daß sich Jerry Cruncher mit knapper Not in den Gerichtssaal hineinzwängen konnte.
»Was verhandeln sie?« fragte er flüsternd seinen Nachbar.
»Noch nichts.«
»Was kommt dran?«
»Der Hochverratsfall.«
»Bei dem sich's ums Vierteilen handelt, he?«
»Ja«, entgegnete der Nachbar im Vorgenuß der Szene; »er wird auf einer Schleife hinausgebracht und halb gehenkt; dann
nimmt man ihn wieder herunter, läßt ihn zusehen, wie man ihm den Bauch aufschlitzt, seine Eingeweide herausnimmt und sie verbrennt, schlägt ihm dann den Kopf ab und zerhackt seinen Leib in vier Stücke. So lautet das Urteil.«
»Wenn er schuldig gesprochen wird, wollt Ihr sagen«, bemerkte Jerry vorsichtig.
»Oh, sie sprechen ihn schon schuldig«, versetzte der Nachbar. »Das braucht Euch keine Sorge zu machen!«
Mr. Crunchers Aufmerksamkeit wurde jetzt durch den Portier in Anspruch genommen, den er mit dem Billett in der Hand auf Mr. Lorry zugehen sah. Dieser saß an einem Tisch unter Herren in Perücken, nicht weit von dem Anwalt des Gefangenen, der einen großen Aktenstoß vor sich hatte, und fast unmittelbar einem andern Herrn gegenüber, dessen ganze Geistestätigkeit – Mr. Cruncher mochte ihn ansehen, sooft er wollte – von der Decke des Gerichtssaales in Anspruch genommen zu werden schien. Es gelang Jerry, durch einige rauhe Hustenstöße, durch Reiben seines Kinns und durch Winke mit der Hand die Aufmerksamkeit Mr. Lorrys auf sich zu ziehen, der aufgestanden war, um sich nach ihm umzusehen, seine Zeichen kopfnickend beantwortete und dann wieder Platz nahm.
»Was hat denn der mit dem Fall zu schaffen?« fragte der Mann, mit dem er vorher gesprochen hatte.
»Will des Henkers sein, wenn ich's weiß.«
Das Eintreten des Richters und das darauf folgende Geräusch, bis das Gerichtspersonal wieder Platz genommen, unterbrach dieses Zwiegespräch. Fortan wurde der Gefangenenverschlag der Hauptanziehungspunkt. Zwei Gefängniswärter, die dort gestanden hatten, gingen hinaus, führten den Angeklagten herein und stellten ihn vor die Gerichtsschranke.
Alle Anwesenden, mit Ausnahme des Herrn, der die Saaldecke betrachtete, starrten ihn mit großen Augen an. Jeder mensch
liche Atem in dem Raume wogte ihm wie ein Meer, ein Wind oder ein Feuer zu. Begierige Gesichter drängten sich um Säulen und Ecken, um seiner ansichtig zu werden; Zuschauer in den hinteren Reihen standen auf, um ja kein Haar von ihm zu verlieren; Leute im Parterre des Saals legten die Hände auf die Schultern ihrer Vordermänner, um sich auf irgend jemandes Kosten zu dem Anblick zu verhelfen; man stand auf den Zehen, suchte die Unterstützung von Leisten und schwebte beinahe in der Luft, um jeden Zoll von ihm zu sehen. Mitten darunter stand Jerry wie ein lebendiges Stück von der mit spitzen Eisen bewaffneten Newgate-Mauer und strömte in die Richtung des Gefangenen (er hatte nämlich auf dem Herweg seinen Schnabel angefeuchtet) seinen Bieratem aus, auf daß er Bekanntschaft mache mit den wogenden Dünsten anderen Biers, Branntweins, Tees, Kaffees und so weiter, die dem Gegenstand des gemeinsamen Interesses zufluteten und sich an den großen Fenstern hinter ihm in der Form eines unreinen Nebels und Regens verdichteten.
Der Zielpunkt all dieses Gaffens und Starrens war ein wohlgewachsener, gut aussehender junger Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, mit sonnverbrannten Wangen und dunklen Augen, der den besseren Ständen angehörte. Er war einfach in Schwarz oder Dunkelgrau gekleidet, und sein dunkles Haar wurde mehr um der Bequemlichkeit als um der Zierde willen an der Hinterseite seines Kopfes durch ein Band zusammengehalten. Wie eine Erregung des Geistes sich durch jede Hülle des Körpers bemerkbar macht, so erkannte man die Blässe, die in seiner Lage natürlich war, durch das Braun der Wangen, zum Beweis, daß die Seele kräftiger ist als die Sonne. Im übrigen zeigte er eine vollkommene Fassung, er verbeugte sich gegen den Richter und blieb ruhig stehen.
Das Interesse, mit dem dieser junge Mann angegafft und
angeatmet wurde, gereichte der Menschheit nicht eben zur Ehre. Wäre er nicht von einem so schrecklichen Urteil bedroht und die Aussicht vorhanden gewesen, daß er von einem oder dem andern Teile des grausamen Verfahrens verschont bleiben könnte, so hätte seine Persönlichkeit bedeutend an Reiz verloren. Die Gestalt, die so schändlich zerstückt werden sollte, war eine
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