Eine Geschichte aus zwei Städten
mit etwas feineren Stacheln versehen war und dessen junge Augen so nahe beieinander standen wie die seines Vaters, die ihm aufgetragene Wache über seine Mutter. Er ängstigte das arme Weib damit, daß er von Zeit zu Zeit aus dem Alkoven, wo er seine Toilette machte, mit dem Ruf herausfuhr: »Wollt Ihr wieder auf die Knie fallen, Mutter? – He, Vater!« und dann nach Erregung dieses falschen Lärms mit einem sehr unkindlichen Grinsen wieder hineinstürzte.
Mr. Cruncher war nicht in der besten Stimmung, als er sich endlich zum Frühstück niedersetzte. Das Gebet, das Mrs. Cruncher leise vor sich hin sprach, erregte bei ihm besonderen Anstoß.
»Nun, Widerwart, was tust du? Geht es schon wieder los?«
Sein Weib entgegnete, daß sie nur einen Segen gesprochen habe. »Das läßt du mir bleiben!« rief Mr. Cruncher, indem er umherschaute, als erwarte er, daß unter der Wirksamkeit von seines Weibes Gebet das Brot vom Tische verschwinden wer
de. »Ich will nicht von Haus und Herd weggesegnet werden. Das segnet mir am Ende alle meine Speisen vom Tisch. Ruhig also!«
Grämlich und mit ungemein roten Augen, als sei er die ganze Nacht auf und in einer Gesellschaft gewesen, in der es nichts weniger als gesellschaftlich zuging, würgte Jerry Cruncher sein Frühstück hinunter und brummte dazu wie nur irgendein vierfüßiger Menagerie-Insasse. Gegen neun Uhr glättete sich sein rauhborstiges Wesen; er übertünchte sein natürliches Ich, so gut er konnte, mit einem Anstrich von Achtbarkeit und Geschäftseifer und trat seinen Tagesberuf an. Man konnte diesen kaum ein Geschäft nennen, obschon Mr. Cruncher es liebte, sich selbst als ehrlichen Geschäftsmann zu bezeichnen. Sein Geschäftsinventar bestand nur aus einem Schemel, gefertigt aus einem Stuhl, dessen zerbrochene Lehne abgesägt worden war, und diesen hatte der junge Jerry jeden Morgen unter das zunächst an Temple Bar grenzende Bankhausfenster zu tragen, wo der Aushelfer mit ein paar Strohwischen, die er einem vorüberfahrenden Fuhrwerk ausraufte und mit denen er die Füße gegen Nässe und Kälte schützte, sein Standquartier aufschlug. Auf diesem Posten war Mr. Cruncher der Fleetstraße und dem Temple so bekannt wie das Tor selbst und sah fast ebenso übel aus.
Um ein Viertel vor neun, also noch zu guter Zeit, um vor den uralten Männern, wenn sie bei Tellsons eintraten, an den Dreispitz greifen zu können, bezog Jerry an jenem windigen Märzmorgen seinen Posten, und der junge Jerry nahm an seiner Seite Stellung, wenn er nicht gerade Streifzüge durch das Tor machte, um körperliche und geistige Verletzungen der schmerzhaftesten Art vorübergehenden Knaben beizubringen, die für seinen liebenswürdigen Zweck klein genug waren. Während Vater und Sohn mit ihren Köpfen so nahe beieinander wie die
Augen in ihren Gesichtern standen und schweigend dem Morgentreiben in der Fleetstraße zusahen, nahmen sie sich bei ihrer großen Ähnlichkeit wie ein paar Affen aus. Die Ähnlichkeit wurde dadurch nicht vermindert, daß der alte Jerry stets Stroh zerbiß und ausspie, während die zwinkernden Augen des jungen Jerry so aufmerksam auf ihm hafteten wie auf allem anderen in der Fleetstraße.
Der Kopf eines ständigen Bediensteten von Tellsons Bankhaus tauchte in der Tür auf und gab das Stichwort:
»Bote! Herein!«
»Hurra, Vater! Schon ein Geschäft!«
Nachdem der junge Jerry seinen Vater auf diese Weise ermutigt hatte, nahm er Platz auf dem Schemel, bemächtigte sich des zerkauten Strohs, das sein Vater ihm hinterlassen hatte, und wurde nachdenklich.
»Immer rostig! Seine Finger sind immer rostig!« murmelte der junge Jerry. »Wo bringt nur mein Vater all den Rost her? Es gibt doch hier keinen!«
Zweites Kapitel
Ein Schauspiel
»Ihr seid ohne Zweifel gut in Old Bailey bekannt?« sagte einer der ältesten im Bankkontor zu Jerry, dem Aushelfer.
»Ja, Sir«, entgegnete Jerry brummig, »ich kenne mich aus in Bailey.«
»Recht so. Und Ihr kennt auch Mr. Lorry?«
»Den Mr. Lorry, Sir, kenne ich viel besser als Bailey. Viel besser«, fuhr Jerry in der Art des unfreiwilligen Zeugen fort, der in dem fraglichen Kriminal vernommen wird, »als ich, der ich
ein ehrlicher Geschäftsmann bin, mit Bailey bekannt zu werden wünsche.«
»Schön! Sucht die Tür auf, durch die man die Zeugen einläßt, und gebt dem Portier dieses Billett für Mr. Lorry. Man wird Euch dann auch einlassen.«
»In den Gerichtssaal, Sir?«
»In den Gerichtssaal.«
Mr. Crunchers Augen schienen noch
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