Eine Geschichte aus zwei Städten
Darnay?«
Diesmal blieb Darnay die Antwort schuldig.
»Sie war ungemein erfreut über das, was ich ihr in Eurem Namen ausrichtete. Nicht, daß sie es äußerlich gezeigt hätte; aber ich vermute es.«
Diese Anspielung diente dazu, Darnay rechtzeitig daran zu erinnern, daß der widerwärtige Gefährte doch aus freien Stücken in der Not des Tages ihm Beistand geleistet hatte; er brachte deshalb das Gespräch auf diesen Gegenstand und drückte ihm seinen Dank aus.
»Ich verlange keinen Dank und verdiene auch keinen«, lautete die unbekümmerte Antwort. »Erstlich kostete mich's keine Mühe, und zweitens weiß ich nicht, warum ich's tat. Mr. Darnay, erlaubt mir eine Frage.«
»Recht gern; es ist ein karger Lohn für Eure guten Dienste.«
»Glaubt Ihr, daß ich besonderen Gefallen an Euch finde?«
»In der Tat, Mr. Carton«, entgegnete der andere verblüfft, »ich habe mir diese Frage noch nicht vorgelegt.«
»So tut es jetzt.«
»Ihr habt gehandelt, als ob es der Fall sei; und doch glaube ich nicht recht daran.«
»Ich auch nicht«, sagte Carton. »Ich fange an, eine sehr gute Meinung von Eurem Verstand zu gewinnen.«
»Es steht jedoch, hoffe ich, dem nichts im Wege«, fuhr Darnay fort, indem er aufstand, um zu klingeln, »daß ich jetzt die Rechnung verlange und daß wir beide uns ohne Groll voneinander trennen.«
Carton entgegnete: »Nicht das geringste«, und Darnay klingelte. »Verlangt Ihr die ganze Rechnung?« fragte Carton – und fuhr auf das Ja des anderen fort: »So bringt mir noch eine Flasche von diesem Wein, Kellner, und kommt um zehn Uhr zurück, um mich zu wecken.«
Nach Begleichung der Rechnung erhob sich Charles Darnay und wünschte gute Nacht. Ohne den Wunsch zu erwidern, stand Carton gleichfalls auf und sagte mit einem Anflug von Trotz oder Drohung: »Noch ein letztes Wort, Mr. Darnay: Haltet Ihr mich für betrunken?«
»Ich glaube, Ihr habt getrunken, Mr. Carton.«
»Glauben? Ihr wißt ja, daß ich getrunken habe.«
»Wenn Ihr es durchaus verlangt, so kann ich ja sagen, daß ich es weiß.«
»Und Ihr sollt nun auch erfahren, warum! Ich bin ein in seinen Hoffnungen getäuschtes Lasttier. Ich kümmere mich um keinen Menschen auf Erden, und kein Mensch auf Erden kümmert sich um mich.«
»Das ist sehr zu bedauern, Ihr hättet Eure Talente besser anwenden sollen.«
»Kann sein, Mr. Darnay; vielleicht auch nicht. Jedoch braucht Ihr Euch wegen Eures nüchternen Gesichtes nicht zu überheben; Ihr wißt nicht, was noch kommen kann. Gute Nacht.«
Sobald dieses seltsame Wesen allein war, nahm es ein Licht auf, trat damit vor den Spiegel an der Wand und betrachtete sich darin aufs genaueste.
»Gefällt dir der Mensch so besonders?« murmelte er seinem Bilde zu. »Warum solltest du eine besondere Zuneigung zu einem Menschen haben, der dir ähnlich ist? Du weißt, du hast nichts Liebenswürdiges an dir. Ach, hol dich der Henker, was hast du aus dir gemacht! Ein guter Grund, dich an einen Menschen zu halten, um stets vor Augen zu haben, wie tief du gesunken bist und was du hättest sein können! Wärest du an seiner Stelle gewesen, hätten dich dann jene blauen Augen auch so angeblickt und das aufgeregte Gesicht so bemitleidet? Na, sprich's nur aus in einfachen Worten: du hassest diesen Kerl.«
Er holte sich weiteren Trost bei seiner Flasche Wein, die er in wenigen Minuten austrank; dann schlief er ein, den Kopf auf die Arme gesenkt, während sein Haar über den Tisch fiel und von der Kerze Unschlitt auf ihn herabtropfte.
Fünftes Kapitel
Der Schakal
Es war eine trinklustige Zeit, und die meisten Männer tranken. Seitdem ist es in dieser Beziehung so viel besser geworden, daß in unseren Tagen eine mäßige Angabe der Menge von Wein und Punsch, die einer damals im Laufe der Nacht zu sich nehmen durfte, ohne den Ruf eines vollkommenen Gentlemans zu schädigen, als eine lächerliche Übertreibung erscheinen würde. Die Rechtsgelehrsamkeit blieb in ihrer Trinkfreude hinter keiner der übrigen gelehrten Berufsarten zurück, und auch Mr. Stryver, der schon auf dem Wege zu einer großen und einträglichen Praxis war, stand in dieser Beziehung seinen Kollegen so wenig nach wie bei den trockenen Bemühungen um das Gesetz.
Beliebt in Old Bailey und bei den Geschworenen, hatte Mr. Stryver vorsichtig angefangen, die unteren Sprossen der Leiter, auf der er hinanstieg, abzubrechen. Die Geschworenen und Old Bailey mußten jetzt schon sehnsüchtig die Arme nach dem Liebling ausstrecken, und man konnte
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