Eine Geschichte von Liebe und Feuer
der drei Söhne im Arbeitslager hatte. »Da gibt es doch gar keine andere Wahl.«
Jeder hatte einen eigenen Standpunkt, und niemand hatte unrecht.
Katerina fiel auf, dass Roza Moreno immer eine Ausrede fand, den Raum zu verlassen, wenn dieses Thema aufkam. Ein- oder zweimal war sie ihr gefolgt und hatte sie leise weinend in einem der Lagerräume gefunden.
»Jedes Mal, wenn ich an Isaac denke, habe ich das schreckliche Gefühl, dass ich ihn nie mehr wiedersehen werde«, sagte sie. »Und hier gibt es nun die Chance, unsere Söhne aus dem Lager zu holen, und die Leute beschweren sich!«
Katerina legte tröstend die Arme um Roza.
»Ich ertrage es einfach nicht, ihnen zuzuhören«, sagte sie. »Was Elias anbelangt, kann ich nichts tun, aber wenigstens Isaac könnte ich wiedersehen.«
»Haben Sie denn irgendeine Nachricht von Elias bekommen?«, fragte Katerina.
»Nein, nichts«, antwortete Roza. »Aber es heiÃt, den meisten Widerstand gebe es in den Bergen, also nehme ich an, dass er dort ist. Immer noch gemeinsam mit Dimitri, schätze ich. Und das Wetter schlägt wieder um, nicht?«
»Ja, es soll schneien. Ich habe gehört, dass es dort oben bereits Schneefälle gibt.«
Roza nickte, und beide Frauen blieben eine Weile schweigend sitzen. Roza Moreno wollte sich erst wieder ein wenig sammeln, bevor sie zu den anderen zurückging. Katerina dachte an Dimitri. Sie erschauderte, als sie sich vorstellte, wie er ohne Essen und warme Kleidung einen weiteren Winter überstehen musste.
Die Debatte um den Friedhof hielt noch eine Zeitlang an, aber tatsächlich hatten die Juden überhaupt keine Wahl. Die Stadtverwaltung hatte bereits Arbeiter abkommandiert, die ihn niederrissen, und im Dezember wurden mehr als dreihunderttausend Gräber, einschlieÃlich derer ihrer groÃen Rabbis und Schriftgelehrten, aufgebrochen. Verwandte eilten herbei, um die Ãberreste ihrer Familienangehörigen zu retten, aber die meisten kamen zu spät und mussten feststellen, dass die Knochen bereits zermalmt und die Goldzähne herausgebrochen worden waren. Einige hatten Glück und waren rechtzeitig dort, um die Gebeine ihrer Verstorbenen in Sicherheit zu bringen und auf neuen Friedhöfen östlich und westlich der Stadt zu bestatten.
Grabsteine aus Marmor wurden entfernt und zum Verkauf angeboten und tauchten später häufig irgendwo als Teil eines Neubaus oder selbst als Gehwegplatte wieder auf. Wie die meisten Juden litten die Morenos entsetzlich, als sie die Zerstörung ihrer alten, ehrwürdigen Begräbnisstätten mit ansehen mussten. Selbst wenn der Friedhof im Epizentrum eines Erdbebens gelegen hätte, hätte kein gröÃerer Schaden entstehen können. Die Zerstörung war verheerend.
Doch nach ein paar Tagen wandelten sich bei der Familie Moreno die Tränen der Trauer in Freudentränen. Ein zum Skelett abgemagerter Mann tauchte vor ihrer Tür auf. Es war Isaac. Die Gebeine von mehreren Hunderttausend Toten waren erfolgreich gegen ein paar Tausend Juden eingetauscht worden, die gerade noch mit dem Leben davongekommen waren.
20
A nfang 1943 nahm die Hungersnot in der Stadt katastrophale AusmaÃe an, und die Einwohner Thessalonikis waren praktisch nur noch damit beschäftigt, sich irgendwie Nahrung zu beschaffen. Den Morenos gelang es zwar, alle übrig gebliebenen Angestellten zu halten â auÃer Jakob waren noch drei weitere in dem Arbeitslager gestorben â, aber für die gab es immer weniger Arbeit. Die deutschen Offiziere lieÃen sich keine An züge mehr anfertigen, und selbst die wohlhabenden Bürger â die Roza Morenos Meinung nach alle Kollaborateure sein mussten â konnten keine Stoffe mehr für neue Kleider bekommen. Konstantinos Komninos hatte seine Preise so stark heraufgesetzt, dass sich nur noch die ganz Reichen derartigen Luxus leisten konnten.
Zu den wenigen Frauen, für die weiterhin Kleider angefertigt wurden, gehörte Olga. Aber sie war aus Sorge um ihren Sohn â nicht aus Mangel an Nahrungsmitteln â extrem abgemagert, und selbst wenn manche ihre überschlanke Figur für ein Zeichen von Eleganz hielten, erinnerten ihre unter der Seide hervorstehenden Knochen doch eher an die Körper hungernder Menschen. Und da ihr Mann zunehmend deutsche Offiziere bewirtete, verging ihr gänzlich der Appetit, wenn sie am Esstisch Platz nahmen.
Gemeinsam mit den anderen
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