Eine Geschichte von Liebe und Feuer
antwortete. Es war ihnen unbegreiflich, dass ein Haus plötzlich ein Zuhause sein sollte, nur weil man es so nannte und eine Vase mit verwelkten Blumen auf dem Tisch stand.
»Und seht nur!«, fuhr sie fort. »Da ist ein Brief für uns!«
Auf einem Regal lehnte ein Umschlag und daneben ein kleines Buch. Eugenia machte den Brief vorsichtig auf.
Im Innern befand sich ein gefaltetes Blatt Papier. Eugenia kniff die Augen zusammen in dem dämmrigen Licht.
»Können Sie Türkisch lesen?«, fragte die Amerikanerin.
»Nein, leider nicht«, antwortete sie. »Kein Wort.«
Nachdem sie ein Leben lang jeden Tag Türkisch gehört hatte, verstand sie zwar eine Menge, konnte aber die Schrift nicht lesen.
»Den heben wir auf«, sagte sie, als sie den Brief in den Umschlag zurücksteckte und ihn in das Buch legte, »und eines Tages finden wir vielleicht jemanden, der ihn uns vorlesen kann.«
Katerina rührte sich immer noch nicht. Es war das Haus eines Fremden, der Brief eines Fremden. Eine fremde Stadt. Und â zum ersten Mal seit vielen Monaten überwältigte sie der Gedanke â auch eine fremde Familie. »Also, ich verlasse Sie jetzt«, sagte die Amerikanerin in die peinliche Stille. »Kommen Sie später ins Zollbüro zurück, ich denke, wir können Ihnen mit einem kleinen Kredit helfen, und in der Zwischenzeit besorge ich Ihnen ein paar Kleider für die Mädchen. Wir haben so viele Spenden aus Amerika bekommen, die man bloà noch aussortieren muss.«
Sie hatte eine Mission und war begierig, sich ihren nächsten Aufgaben zu widmen. Es gab Hunderttausende von Flüchtlingen in der gleichen Lage wie Eugenia, und man durfte sie nicht mit weiteren Fragen aufhalten.
»Danke für alles, was Sie für uns getan haben«, sagte Eugenia. »Wir sind wirklich sehr dankbar für das Haus. Wie sagt man, Mädchen?«
»Vielen Dank«, erwiderten die drei im Chor.
Die Amerikanerin lächelte und machte sich dann auf den Weg.
Maria und Sofia rannten aufgeregt die Treppe hinauf, spielten Fangen, packten sich an den Röcken und kreischten und lachten. Nachdem sie sich an den Gedanken gewöhnt hatten, dass dieses Haus ihnen gehörte, sausten sie herum, öffneten Kisten und Kästen und riefen zu ihrer Mutter in die Küche hinunter, was sie entdeckt hatten.
»Sie haben eine Matratze dagelassen!«
»Hier oben steht ein groÃer Koffer!«
»Da ist eine Decke drin â¦Â«
»⦠und da liegt ein Teppich auf dem Boden!«
In der Zwischenzeit, während Katerina still in einer Ecke auf dem Boden saÃ, inspizierte Eugenia alle Schubladen und Schränke im Erdgeschoss, um zu sehen, was die früheren Bewohner zurückgelassen hatten. Sie hatte zwar auf dem Weg einige Dinge erstanden â ein paar Trinkbecher, Teller aus Blech und drei Decken â, aber alles andere, sowohl die Gegenstände des täglichen Gebrauchs wie Erinnerungsstücke, waren bei dem überhasteten Aufbruch zurückgeblieben. Mit einem kleinen Gebet stellte sie die Ikone des heiligen Andreas, die früher ihren GroÃeltern gehört hatte, auf ein Regal. In ihrem Dorf hieà es, der Heilige habe an den Ufern des Schwar zen Meers gepredigt, und Eugenia kannte das Bild von frühester Kindheit an.
Jeder Schrank enthielt einen Gegenstand, der von seinen vorherigen Besitzern erzählte. Neben Töpfen und Pfannen, Tellern und Besteck gab es Tüten mit gemahlenen Gewürzen, einen Krug mit Ãl, Honig und Kräuter. In einem Koffer lagen Decken, und es fand sich sogar ein eingelegtes Kästchen mit einigen Papieren darin.
Die verschiedenen Gerüche dieser zurückgelassenen Dinge â der scharfe Geruch der Kurkuma, der modrige des Teppichs â schienen die Geister der früheren Bewohner zurückzurufen und erfüllten Eugenia mit Unbehagen. Wer konnte schon sagen, ob sie nicht wieder zurückkamen? Vielleicht klopfte es irgendwann plötzlich an der Tür? Vielleicht besaÃen sie noch einen Schlüssel? Diese Gedanken lösten ein starkes Gefühl der Beklommenheit in ihr aus.
Sie ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Es gab keinerlei Hinweis auf eine überstürzte Abreise, das Haus wirkte ordentlich und schien noch immer vom Leben der muslimischen Familie erfüllt. Als hätten sie eine letzte Mahl zeit eingenommen, wären dann ruhig aufgebrochen und hätten alles mitgenommen, was sie
Weitere Kostenlose Bücher